Zeit: Gelebte Zeit

Am Wochenende waren wir mit einer ganzen Gruppe von Teeschülern in Thüringen. In der romanischen Basilika in Breitungen auf einem ehemaligen Klostergelände, das in der Renaissance zu einem Schloß umgebaut worden war, haben wir Teezeremonie vorgeführt und Shakuhachi gespielt. Wir hatten speziell für die Basilika eine „Performance“ entwickelt, bei der die Stille und die Konzentration des Teeweges auf das Publikum wirken sollte. Wir haben uns gegenseitig Tee zubereitet und während der Zeremonien ausgewählte alte Texte, z.B. aus dem Namboroku rezitiert, die ein wenig den Ablauf und den Sinn des Teeweges ohne akademische Erklärungen erkennbar und für die Zuschauer nachvollziehbar machen sollten.
In der Pause hörten wir die Unterhaltungen der Zuschauer:

„Das Geheimnis ist die Langsamkeit!“

Die Langsamkeit unserer Bewegungen und Handlungen, die aus der Konzentration und aus der Einheit mit der Atmung erwächst, hatte offensichtlich die Zuschauer verzaubert und in eine andere Welt versetzt. Aber die Langsamkeit darf nicht aus einer gewollten und kontrollierten Langsamkeit entspringen. Sie muss aus unserem Inneren kommen und sie entsteht ganz von allein, wenn Atmung und Bewegung im Einklang sind. Nur diese Langsamkeit springt auf den Betrachter über und vermittelt im die Empfindung von Ruhe und vom Eins – Sein mit dem Anderen.

Nach der Performance lud uns der „Schlossherr“ in den Schloss-Saal ein und seine erste, drängendste und wichtigste Frage war:

„Was habt ihr Buddhisten für ein Verhältnis zur Zeit?“

Wir sind zwar keine Buddhisten, aber viele der Texte, die wir rezitiert hatten, stammen aus buddhistischem Hintergrund. Wir hatten auch auf der Veranstaltung erklärt, dass für uns Zen und Tee Ein und das Selbe sind, dass aber Zen keine Religion, sondern eine Methode der Meditation und Konzentration ist, die sich vor allem im Alltag bewähren muss.

Welches Verhältnis zur Zeit haben wir im Teeweg und beim Spiel der Shakuhachi?

Eigentlich keines. Es gibt immer nur JETZT. Jetzt den Teelöffel nehmen, jetzt den Tee einfüllen, jetzt Tee trinken. Oder jetzt diesen Ton, jetzt diesen. Dadurch sind wir bei den Übungen ganz und gar im Augenblick, nichts hetzt oder treibt uns vorwärts, nichts lässt uns empfinden, dass unsere Bewegung zu langsam oder zu schnell ist.

Auch wenn wir Shakuhachi spielen, treibt uns nicht vorwärts oder hemmt uns in unserer Geschwindigkeit. Kein Rhythmus und kein Metronom und keine gezählte „tote – Zeit“ gibt die Geschwindigkeit vor. Wir formen den Ton, wir atmen und mit unserem Herzen bilden wir den Klang und formen den Augenblick, in dem der Klang ertönt.

Im Alltag tun wir oft fünf Dinge gleichzeitig, wir telefonieren, schreiben Notizen, reden zwischendrin mit Anderen, trinken Tee oder Kaffee und und …  Aber haben wir dadurch Zeit gewonnen?

Nein, ganz im Gegenteil, je mehr wir uns hetzen und beeilen, desto mehr rinnt uns die Zeit durch die Finger. Je mehr Zeit wir sparen, indem wir unser Leben rationalisieren und alles „Überflüssige“ weglassen, desto weniger Zeit haben wir.

Wenn wir „langsam“ werden und im Augenblick genau DIES tun und nicht Anderes, erfüllt sich der Augenblick mit Leben, die Zeit wird erfüllte Zeit, gelebte Zeit.

In Tolstois Erzählung vom Tod des Ivan Illich kommt Ivan, der todkrank auf dem Sterbebett liegt, plötzlich zu der Erkenntnis, dass er überhaupt nicht sterben kann, weil er ja noch gar nicht gelebt hat. Herbert Achternbusch fragte einst, ob es ein Leben vor dem Tode gibt.

Ja, wenn wir ganz im Augenblick sind, uns nicht hetzen oder treiben lassen, sondern ganz intensiv vollkommen im Augenblick LEBEN, dann ist das ein erfülltes Leben.

Ich hoffe, dass wir in Breitungen in der Basilika ein wenig von dieser Erfahrung der erfüllten Zeit vermitteln konnten.

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