In Japan und in China gibt es die Jahrhunderte alte Sitte, Gegenstände mit poetischen Namen zu versehen. Es können Häuser, Tempel, Teegeräte wie Teeschalen, einfache Teelöffel, die aus Bambus geschnitzt sind oder die Süßigkeiten sein, die man zum Tee reicht. Wenn diese Dinge mit den ehrwürdigen, poetischen Namen benannt sind, dann sind sie aus der Anonymität der alltäglichen Verbrauchsdinge herausgehoben. Viele der Namen sind unmittelbar aus der Beobachtung der Natur und der Jahreszeit entnommen. Hatsuharu, „erster Frühling“ ist die Zeit nach Neujahr. Die Sonne scheint hell und fast meint man, der Frühling sei schon gekommen. Aber dann kommt im Februar daikan, „große Kälte“. Im März bis April ist dann die Zeit des Hanafubuki, des Blütenschneesturms von fallenden Kirschblüten.
Gomei können auch aus der Mythologie, der Literatur oder aus den Volksbräuchen stammen oder entnommen sein.
Ich hatte schon über fünfzehn Jahre den Teeweg praktiziert, als ich das erste mal nach Kyoto kam. Mein erster Lehrer Yoshinori Kawasaki war zur Olympiade 1972 nach München gekommen. Der Großmeister der Urasenke Sōshitsu Sen XV hatte ein originales Teehaus gestiftet und Kawasaki Sensei als Lehrer mitgeschickt. Nun waren er und auch mein zweiter Lehrer Nakamura schon lange wieder nach Japan zurückgekehrt, als ich meine ersten Schritte in Japan wagte. Aber es gab ja die Ura- senke und das Midorikai, die Vereinigung der ausländischen Schüler, die für ein oder mehrere Jahre in Kyōto den Teeweg studieren konnten. Es gab dort viele Begegnungen, die mir unvergessen bleiben, die ich aber hier nicht alle aufzählen kann.
Bei den Übungen der Teezeremonie gab es jeden Tag für die Teeschüler eine andere Teesüßigkeit, die auch immer einen poetischen Namen, ein Gomei hatte. Aber es viel mir schwer, mir die vielen Namen zu merken. Immerhin sind die ‚ehrwürdigen Namen‘ als wesentlicher Bestandteil der Tee-Praxis so umfangreich, dass ein Handbuch mit knapp 800 Seiten erschienen ist, leider nur in japanischer Sprache.
Es war ein warmer Maitag. Die Tage vorher hatte es heftig geregnet und die Berge rund um Kyōto waren in dichtem Nebel verschwunden. Die Luft war bleischwer drückend und schwül gewesen, sodass man kaum atmen konnte. Heute plötzlich war Die schwere, schwüle Luft verschwunden und das Mailicht strahlte. Endlich konnte man wieder frei atmen, ohne niedergedrückt zu werden.
Fast schien es, als ob die riesigen japanischen Zedern auf den Bergen wie mit einer spitzen Feder in die klare Luft gezeichnet waren.
Ich hatte den Tee serviert und mein Gast fragte die obligatorische Frage nach dem Namen der Süßigkeit. Ganz spontan antwortete ich mit einem Hölderlinzitat: „Menschenfreundliches Mailicht!“
Das Wort stammt aus dem unvollendeten Gedicht ‚Gang aufs Land‘. Der Dichter und seine Gefährten haben sich trotz einer bleischweren schwülen Zeit aufgemacht zum Gang aufs Land, ins Offene. In Schwaben sagt man auch „Komm ins Offene“, wenn man zu einem Gang in die Natur, auf das Land einlädt. Aber das Offene ist auch das befreite Herz nach einer drückenden, bleischweren Zeit.
Hölderlin will ins Offene, um oben auf dem Berg die Eröffnung eines Gasthauses zu feiern.
Zwar würde der Wirt keine japanischen Süßigkeiten servieren, aber doch das ‚Beste des Landes‘. Der Zimmermann würde auf dem Firstgiebel des neuen Hauses feierlich den traditionellen Spruch tun und den Segen Gottes für das Haus herbeirufen. Aber das ‚menschenfreundliche Mailicht‘, würde ein Übriges tun, ganz von selbst erklärt. Ohne jedes Wort:
…. schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings
Aufgegangen das Thal, wenn vom Neckar herab,
Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume
Zahllos, blühend weiß, wallend in wiegender Luft,
aber mit Wölkchen bedekt an Bergen herunter der Weinstok
Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft,
Schöner freilich muss es, werden wenn ….