hana wo nomi Zeigte man den die Kirschblüten
matsuran hito ni erwartenden Menschen
yamazato no im abgeschiedenen Bergdorf
yukima no kusa no die Gräser unter dem schmelzenden Schnee
haru wo miseba ya im nahenden Frühling
Dieses Gedicht aus dem alten Japan beschreibt die Situation, die wir vor ein paar Tagen hier in unserem Rhöndorf erlebt haben. Es hatte den vorigen Tag und die Nacht heftig geschneit. Nun fielen die Schneeflocken immer noch und das ganze Land verschwand unter einer weißen Decke.
Früh um 6 Uhr fiel dann der Strom aus, weder Telefon, Handy noch Internet funktionierten.
Die Straßen waren nicht geräumt und kein Auto fuhr, denn es war Sonntag. So war unser Yamazato – das versteckte Bergdorf – vollkommen vor der Welt verborgen und abgeschnitten. Tiefe Stille senkte sich über das Land. Erst am späten Nachmittag hörte der Schneefall auf und alle Nachbarn waren am Schnee schaufeln, als nach sieben Stunden plötzlich die Straßenlaternen aufleuchteten. Der Strom war zurück und die Welt hatte uns wieder.
Am nächsten Tag dann leuchtete die Schneelandschaft im strahlenden Sonnenschein, der auch schon wohlig wärmte. Die Dächer tropften vom tauenden Schnee und unter dem dichten Weiß gluckerten kleine Bäche von Tauwasser. Dort, wo sich der Boden unter dem Schnee in kleinen Lücken im Weiß zeigte, dufteten die Gräser. Bäume und Büsche warfen den lastenden Schnee ab und zeigten ihre sehnsüchtig auf den Frühling wartenden Knospen. Das Leben kehrt zurück!
Manchmal geht es in unserem Leben ebenso. Alles ist dunkel, grau und im dichten Nebel verhüllt. Es scheint keine Hoffnung mehr auf ein freies Leben. Wenn dann noch der Kontakt zu anderen Menschen fehlt, weil uns immer eingeschärft wird, dass jeder Mensch, dem wir begegnen, ein potentieller Gefährder ist und die tödliche Krankheit bringen kann, bleibt nur noch eine tiefe Depression. Menschen sind soziale Wesen und brauchen die Nähe und den unbeschwerten Kontakt mit anderen, mit denen man gemeinsam lachen und sich freuen kann. Weder das Verkriechen noch heftiger Aktionismus helfen. Aber ein Schritt zurück in eine besinnliche Stille können durchaus hilfreich sein und den grauen Nebel vertreiben.
Unsere Teeräume in dem alten Forsthaus sind nun weitgehend fertig und richtig gemütlich geworden. Jeden Tag, manchmal sogar zweimal, versammeln wir uns im Teeraum, lauschen dem Singen des Teekessels und genießen den Duft des grünen Pulvertees bei einer stillen Teezeremonie. Wie gerne würden wir Gäste einladen, aber ist das denn überhaupt erlaubt? Zwar treffe ich immer wieder Schüler online zum Unterricht in der Zen – Shakuhachi, aber es ist nicht dasselbe wie ein lebendiger persönlicher Kontakt. Nun sind schon alle Seminare und Veranstaltungen abgesagt worden. Gerne würde ich auch wieder ein kleines meditatives Konzert für Freunde und Bekannte spielen. Aber nun bleibt nur, ein paar Aufnahmen auf Youtube einzustellen. Nur noch wenige Freunde können uns – selbstverständlich mit einem aktuellen Test – besuchen. Aber wer weiß, vielleicht ändert sich die Zeit, so wie der Frühling schon sehnsüchtig unter der dichten Schneedecke wartet.
Das Schlimmste für uns Menschen ist ein Leben in Angst. In der letzten Zeit habe ich ein paar Videos mit Geschichten aus dem alten Japan gemacht und auf Youtube eingestellt. Darin werden die Angst und die Befreiung von der Angst geschildert. Auch im alten Japan war die Angst eines der größten Probleme für den Menschen. Das letzte Video erzählt in einer freien, aber eng an das altjapanische Original angelehnten Nacherzählung ein klassisches Stück aus dem Noh-Theater von Zeami, der um 1400 gelebt hat: Die wahre Yamaba oder: Die Überwindung der Angst. Das ergreifende Stück ist so erstmals in deutscher Sprache zugänglich. Zeami zeigt in seinem Stück, dass man Angst nicht bekämpfen kann, indem man sich verkriecht oder in hektischen Aktionismus verfällt oder die Welt in Gut und Böse einteilt. Man stellt sich der Angst, wenn man sie annimmt und in der Stille immer wieder Kraft schöpft. Dann erkennt man, dass es nicht die äußeren Dinge waren, die Angst verursachen, sondern unsere eigene Einstellung zeigt uns die Dinge als angstvoll. Die Erzählung kann man nachlesen in meinem Buch mit Legenden und Mythen aus dem alten Japan: „Vor langer Zeit. Mukashi mukashi“. Über eine Rückmeldung über das Video würde ich mich freuen.
Ich arbeite gerade an einem neuen Buch, dem zweiten Teil über das Daodejing. Der erste Teil ist ja in diesem Sommer erschienen. In den letzten Tagen habe ich mich mit der Übersetzung des Shinjinmei, des ältesten Zen-Gedichtes überhaupt herumgeschlagen. Das erstaunlich kunstfertige Gedicht ist aus einer engen Verbindung des Zen mit den Gedanken und Erfahrungen des Dao in China entstanden. Es besteht aus 146 Zeilen mit jeweils genau vier Schriftzeichen. Die ersten Verse lauten in der Übersetzung von Gundert:
Der höchste WEG ist gar nicht schwer,
Nur abhold wählerischer Wahl.
Dort wo man weder hasst noch liebt,
Ist Klarheit, offen, wolkenlos.
Der ‚höchste Weg‘ ist das Dao. Eigentlich ist es kein höchster Weg, denn alles was ist, ist Dao. Die Ameise, die Gräser, ja selbst, wie es im Zhuangzi, dem Klassiker des Daoismus heißt, Pisse und Scheiße. Im Zen sagt man, dass alle Wesen die Buddhanatur haben, die ähnlich gedacht ist wie das Dao, das Alles ist. Aber man muss sie verwirklichen. Zenmeister Dogen nennt als Beispiel die Fähigkeit, Wasser zu holen. Jeder Mensch hat diese Fähigkeit. Aber wenn wir nicht zum Brunnen gehen und das Wasser schöpfen, gibt es eben kein Wasser. Der alte chinesische Zenmeister Joshu antwortete einmal auf die Frage nach dem Buddha mit der Gegenfrage: „Hast du deinen Reis schon gegessen? Dann geh und wasch deine Schale!“
Das ganz alltägliche Tun ist die Verwirklichung der Buddhanatur, ist das Gehen auf dem ‚höchsten Weg‘. Aber weil es das Gewohnte ist, empfinden wird das alltäglich Tun als das Gewöhnliche. Wir müssen lernen, wieder das Wunderbare am Alltäglich zu sehen. Wie erstaunlich und wunderbar ist es, wenn wir Gemüse schneiden, es erhitzen, es in einem geradezu alchemistischen Prozess verändern und als Nahrung zu uns nehmen.
Das Beiwort ‚zhi‘ im chinesischen Text des Shinjinmei für das höchste Dao ‚zhi Dao‘ ist nicht das Höchste. Es gibt aber eine Richtung an: ‚von – nach‘. Ein Mensch, der sich stets bemüht hat, immer gelernt und alle Prüfungen bestanden hat, heißt ‚zhi ren‘, höchster Mensch. Er heißt so, weil er sich stets bemüht hat und immer unterwegs war, sich selbst zu verwirklichen. Zhi Dao ist der Weg, den man jeden Tag übend geht. Nicht nur in den großen Dingen, sondern gerade in den alltäglichsten Verrichtungen, die unser Leben mit Glück erfüllen können. Wir müssen die kleinen Dinge des Lebens nur voll bewusst als das Wunder des Lebens erleben.
Im Text heißt es, dass dort, wo man nicht hasst oder liebt, die ‚wolkenlose Klarheit‘ ist.
Die ‚wolkenlose Klarheit‘, wörtlich ‚Ming Bai – strahlend hell leuchtendes Weiß‘ ist der Zustand des Geistes, der vollkommen zur Ruhe gekommen ist und einfach nur da ist. Das erste Wort in der Zeile ist schwer zu verstehen. Chinesisch heißt es dòng, Höhle oder Loch. Wörtlich müsste man dann die Zeile übersetzen: „Loch – dann strahlend weiß“. Solange man in der krassen Unterscheidung von hassen oder lieben, geimpft oder ungeimpft, richtig oder falsch verweilt, ist es, als würde man in einem tiefen Loch gefangen sein. Aber durch eine winzig enge Öffnung kann man draußen die strahlend klare Helle sehen. Dort leuchtet der Geist in Frieden mit sich selbst und der gesamten Welt. Die Angst, das Falsche zu tun oder das Richtige zu verpassen, die oft auch von außen an uns herangetragen wird, hält in diesem tiefen Loch fest. Aber die Angst bewältigen muss jeder für sich selbst. Machen wir es der Natur nach. Wenn der Winter am dunkelsten und am kältesten ist, warten die Büsche und Bäume schon sehnsüchtig auf den Frühling, um dann jubelnd zu blühen und zu leuchten.
Links zu Youtube:
Die wahre Yamaba – Überwindung der Angst: Die wahre Yamaba
Eine Auflistung aller Videos auf meinem Youtube Kanal mit Filmen über den Teeweg, mit meditativer Shakuhachi-Musik und den japanischen Legenden findet sich auf meinem Blog.Wer den Kanal aboniert, wird automatisch benachrichtigt, wenn es ein neues Video gibt. Geplant sind weitere Erzählungen, ein paar Reiseberichte aus Japan und China ud Meditationen mit der Shakuhachi.
Myoshinan auf Youtube
Bücher:
Einige meiner Bücher sind bei mir vorrätig und können direkt über mich bezogen werden. Auf Wunsch auch mit einer japanischen Kalligrafie von mir und / oder einer persönlichen Widmung.
Bücherkiste
Wer am online Unterricht in der Zen-Shakuhachi interessiert ist, kann sich gerne an mich wenden. Teilnahme an einer Teezeremonie ist nach Voranmeldung ebenfalls möglich. Bei uns gilt 1 G, nämlich getestet. Schnelltest genügt. Geimpfte sind ebenso willkommen wie Ungeimpfte.
Sowie es die Entwicklung zulässt, werden wir wieder Seminare, auch in Griechenland anbieten. Onlineseminare sind jederzeit auch auf Anfrage mit Zoom möglich.
Mit den besten Grüßen aus dem alten Forsthaus in der Rhön
mit dem Teehaus Myoshinan
früher in Oberrüsselbach
Gerhardt Staufenbiel
und
Carola Catoni
Bleibt gesund und guten Mutes
und möglichst oft in der wolkenlosen Klarheit!
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