Gesang und Trauer

Im Kapitel „Der große Ahn und Meister“ des chinesischen Philosophen Zhuangzi heißt es:

Der Wahre Mensch des Altertums kannte weder die Liebe zum Leben noch die Angst vorm Tod; er freute sich nicht, hervorzutreten, er widersetzte sich nicht der Rückkehr. Er vergaß nicht seinen Ursprung, er versuchte nicht zu wissen, was sein Ende sein würde.

Der „Wahre Mensch“ ist ein Mensch, der in Übereinstimmung mit Himmel und Erde und so auch mit sich selbst lebte. Das verhindert aber nicht, daß auch er Schicksalsschläge erleidet, wie jeder andere Mensch auch. Man kann ein Leben im Einklang mit der Natur und dem Kosmos führen, dennoch gibt kriegerische Ereignisse, Erdbeben und Tsunami, persönliche Schicksale oder unverschuldete Unfälle. Manchmal verändert ein einziger Tag das gesamte Leben. Heute noch ist man gesund, morgen schon ist die Diagnose: Krebs!
Man feiert gemeinsam im vertrauten Kreis einen Geburtstag – und plötzlich ist alles anders.

Es ist vielleicht nur die Art, wie ‚der wahre Mensch‘ mit diesem Schicksal umgeht, was ihn von anderen unterscheidet. Lesen wir die Geschichte aus dem Zhuanzi:

Meister Kutsche und Meister Maulbeerbaum waren Freunde. Als es einst zehn Tage ohne Unterbrechung geregnet hatte, dachte Meister Kutsche bei sich: „Ich fürchte, Meister Maulbeerbaum könnte in Schwierigkeiten sein!“ Er wickelte einige Nahrungsmittel in ein Tuch ein und ging, ihm etwas zu Essen zu bringen.

Beide sind Meister, aber sie wissen um Not und Unglück, das jeden von uns unvermittelt und unverschuldet ereilen kann. Völlig selbstverständlich eilt Meister Kutsche zu Hilfe, aber als er bei der Hütte seines Freundes anlangt, ist er überrascht. Sicher hatte er einen völlig verzweifelten und um Hilfe rufenden Freund erwartet, aber der singt und spielt die Zither!

Als er an Meister Maulbeerbaums Tür angelangt war, hörte er, wie die Zither angeschlagen und ein Klagelied angestimmt wurde, ein Mittelding zwischen Klagen und Weinen:

    War es Vater?
War es Mutter?
Der Himmel?
Die Erde?

Die Stimme war nahe daran, zu brechen und die Verse wurden hastig vorgebracht.

Ja hat denn ein Meister in einer solchen Situation nichts besseres zu tun, als zu singen und die Zither zu spielen?
Das Lied, das gesungen wird, ist ein Klagelied und besteht aus einer Reihe von Fragen. Wer war es, der ihn in ein solches Unglück gebracht hat, wer ist Schuld an seinem schlimmen Schicksal: Vater, Mutter, der Himmel oder die Erde?

Wenn wir wissen, wer unser Unglück verschuldet, geht es uns schon ein ganzes Stück besser. Wir können die Verantwortung abschieben und meinen, schon dadurch Erleichterung zu finden.

Aber Meister Maulbeerbaum bleibt nicht bei Schuldzuweisungen und bei der Klage um sein schlimmes Schicksal. Auf die Fragen von Meister Kutsche antwortet er:

Ich denke darüber nach, wer mich in eine solche schlimme Lage gebracht haben könnte, finde aber keine Antwort. Gewiß hätten mein Vater und meine Mutter nicht gewollt, daß ich in solcher Armut ende. Und der Himmel zieht unter denen, die er bedeckt, niemanden vor, ebenso wie die Erde unter denen die sie trägt niemanden vorzieht.

So war es vielleicht nur das Schicksal, das mich in diese Lage brachte.

Es hat keinen Sinn, mit dem Schicksal zu hadern. Es gibt zwar Situationen, die wir selbst verschuldet haben, manchmal aber ist es das Schicksal, das uns schlägt. Wer oder was ist das Schicksal? Es ist oft nicht bestimmbar, es geschieht einfach so, ganz von selbst.
Wer hat den Tsunami verschuldet? Das Erdbeben. Wer hat das Erdbeben verschuldet? Eine tektonische Verschiebung. Aber warum geschieht es gerade jetzt und gerade hier? Warum bin gerade ich von den Ereignissen betroffen?

Der Tsunami hat nicht nur ganze Landstriche verwüstet. Auch viele Menschen bei uns sind so sehr davon betroffen gewesen, dass sich ihr Leben schlagartig geändert hat. Wir haben hier im persönlichen Schicksal von vielen Menschen Wandlungen und Katastrophen erlebt, die das Leben total verändert haben. Warum? Geschieht alles von sich aus, ohne dass es jemand bestimmtes verschuldet hat?

Das soll aber nun nicht heißen, dass einfach alles Schicksal ist.
Atomkraftwerke in Erdbeben- und Tsunami-gefährdeten Gebieten zu bauen, und einfach zu sagen, es war Schicksal, wenn etwas passiert, zeugt nicht von großer Weisheit. Die Menschen, die das zu verantworten haben sind keine ‚wahren Menschen‘, es sind gedankenlose und unverantwortliche Dummköpfe. Aber so sind wir Menschen. Solange alles ‚gut geht‘, weigern wir uns, nachzudenken.

Ich wünsche Allen, die von solchen katastrophalen Veränderungen betroffen worden sind viel Kraft und Glück im künftigen Leben.
Und dass sie aufwachen aus dem Traum, das Leben sei in irgend einer Weise durch unser Tun absolut sicher zu machen.
Was nicht heißt, dass wir blind und dumm mit geschlossenen Augen in vorhersehbares Schicksal laufen. Etwa indem wir AKW in Erdbebengebiete bauen.

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