Viereinhalb Matten – Der Kiefernwind

Ich habe einen kleinen Beitrag geschrieben zu dem Teeraum am Feuerberg.

Im Norden der alten Kaiserstadt Kyoto liegt verborgen hinter hohen Kamelienbüschen der ‚Silberne Pavillon‘. Dort residierte der Shōgun Yoshimasa (15. Jhdt.), der mitten in schrecklichen Zeiten von Krieg und Hungersnöten den Frieden seines Herzens suchte. Da berichtete ihm sein Beraten von einem Teemeister mit dem Namen Murata Jukō:

Das Singen des siedenden Teekessels beneidet den Wind in den Kiefern und erfreut zu allen Jahreszeiten das Herz.
Neuerdings hört man von einem gewissen Murata Jukō, der sich ganz dem Tee gewidmet hat und in dieser Kunst äußerst bewandert ist.

Der Shōgun ließ sich einen Teeraum mit viereinhalb Matten errichten und forthin fand er beim Singen des Teekessels seinen Frieden.
Die viereinhalb Matten sind Matten aus Binsengras, die mit gewebtem Reisstroh überzogen sind. Sie haben das Standartmaß von 95 x 190 cm. Alle traditionellen Häuser in Japan sind von diesem Modul geprägt. Die viereinhalb Matten bilden einen Raum von gerade einmal 8 qm und dennoch sind sie ein Abbild des gesamten Kosmos. Sie bilden ein Quadrat mit einer vollkommenen Harmonie, die genau den Regeln des Fengshui folgen.

Zur Zeit Buddhas lebte der Kaufmann Vimalakirti. Er verließ seine Heimat und zog sich zur Meditation in eine winzige Hütte in den Bergen zurück. Nach der Tradition hatte sie eine Grundfläche von 5 Fuß im Quadrat. Das entspricht genau der Fläche der viereinhalb Tatami. In dieser schlichten Hütte fand Vimalakirti seinen Frieden und kehrte in seine Heimat zurück. Dort lebte er als erfolgreicher Kaufmann, der viele gute Taten vollbrachte. Als er krank wurde, schickte Buddha seine Schüler zu ihm, aber keiner wagte es, Vimalakirti zu besuchen, weil er viel größer war als sie selbst. Er verwirklichte seinen Frieden mitten im alltäglichen Leben. Buddhas Jünger dagegen fanden ihn nur im Rückzug in die Abgeschiedenheit.

Nach dem Vorbild Vimalakirtis hatte sich der japanische Dichter Kamo no Chōmei im 13. Jahrhundert in die Berge zurückgezogen, um sich in einer kleinen Hütte von 5 Fuß im Quadrat der Musik und Poesie zu widmen.

Nun habe ich mein sechzigstes Jahr erreicht, und mein Leben scheint dahinzuschwinden wie ein Tautropfen. So habe ich mir noch einmal eine Behausung für die letzten Jahre meines Daseins gebaut gleich einem Wanderer, der sich für eine Nacht einen Unterschlupf herrichtet, gleich einer alternden Seidenraupe, die sich einen Kokon spinnt.

Die Hütte ist – wie die Hütte Vimalakirtis – nicht prachtvoll und mit Gold und dem Glanz des Reichtums ausgestattet. Sie soll lediglich vor Wind und Wetter schützen und ist aus einem bewussten Verzicht auf die Pracht der Paläste nur für den Augenblick errichtet.

Als der Haikudichter Bashô (17. Jhdt.) in der Einsamkeit der abgeschiedenen Berge unterwegs war, traf er auf die Hütte, die sich einst sein alter Zen-Lehrer Butchô gebaut hatte. Butchô hatte diese Hütte nicht als komfortable Unterkunft gebaut, dazu ist der Aufenthalt viel zu flüchtig. An die Wand der Hütte hatte er mit einem verkohlten Holzstück geschrieben:


Tateyoko no
Goshaku ni taranu
Kusa no io
Musubu mo kuyashi
Ame nakeriseba


In Länge und Breite
mißt diese Grashütte kaum
fünf Fuß! – Hätte ich mich
abgemüht, sie zu errichten,
wenn es den Regen nicht gäbe?



In den »Aufzeichnungen des Mönches Nambō« erklärt der große Teemeister des 16. Jhdt. Sen No Rikyū das Wesen des Teeweges:

Sich an der großartigen Konstruktion eines Hauses und an dem Geschmack erlesener Speisen zu freuen, ist eine sehr weltliche Angelegenheit. Uns genügt ein Haus, durch dessen Dach es nicht regnet, und ein Mahl, bei dem gerade der Hunger gestillt ist. Das entspricht der Lehre Buddhas und dem wahren Geist der Teekunst. Man bringt Wasser herbei, sammelt Brennholz, erhitzt das Wasser und bereitet Tee. Dann bringt man ihn dem Buddha dar, reicht ihn den anderen und trinkt ihn auch selbst. Man arrangiert Blumen und entzündet Weihrauch. Durch all dies formen wir uns selbst nach den Taten Buddhas und der vergangenen Meister zu wandeln. Alles andere musst du aus Dir selbst verstehen lernen.

Nambō war ein buddistischer Mönch. Aber man muss nicht der Lehre Buddhas folgen, um den Segen des Teeweges zu erleben. Auch die Jesuiten, die im 16. Jhdt. in Japan missionierten, übten begeistert und fleißig die Teezeremonie. In jeder Missionsstation gab es einen Teeraum. Noch heute erinnern viele Bewegungen bei der Teezeremonie an die katholische Messfeier. Die gemeinsame Feier des Tees ist eine Feier des Lebens, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder gesellschaftlicher Stellung. Denn alle Menschen sind nach der Philosophie des Teeweges im Teeraum gleich.

Kamo No Chōmei vergleicht seine winzige Hütte mit dem Kokon einer Seidenraupe. Der Kokon ist nicht nur eng, er bildet auch den Schutz, in dem sich die Raupe in einen wundervollen Schmetterling verwandelt. Und so ist auch der Teeraum ein Ort der Verwandlung. Es ist kein endgültiger Rückzug aus dem Leben, sondern ein Ort der Sammlung und Besinnung. Gestärkt kehrt man dann wieder aus der Stille in den Alltag zurück, der sich aber hoffentlich verwandelt und den hektischen Andrang der Dinge verloren hat.

Im Teeraum versammeln sich der Gastgeber und seine Gäste, um nach einem alten Ritual den Tee aus gemahlenem Teepulver und heißem Wasser zu bereiten und zu genießen. Schweigend bereitet der Gastgeber die Teegeräte vor, die er zunächst achtsam und rituell reinigt. Diese Reinigung dient zugleich dazu, alle Hektik des Alltags auszublenden und in die Stille zu finden. Bewegung und Atmung bilden eine Einheit und in gemessenen Bewegungen ‚tanzt‘ der Teemeister den Tee. Unmerklich gleiten die Gäste, geleitet vom Tee-Tanz in die Stille, die der Gastgeber schon im Vorbereitungsraum eingeübt hat. Der Duft des frisch aufgebrühten Tees erfüllt den Raum, der Teekessel singt sein Lied der Stille und die Blume leuchtet in der Schmucknische und zeigt die Jahreszeit an. Einer meiner Lehrer – ein amerikanischer Jesuit, der in Japan zum Teemeister ‚konvertiert‘ war – hat einmal gesagt: »Sogar ein Idiot würde in einem solchen Raum in die Stille finden!«

Der Dichter Bashō war sein ganzes Leben auf Wanderschaft, denn er verstand das Leben als eine unentwegte Wanderung. Bis auf das Sterbebett bleibt der Wunsch nach ursprünglicher Geborgenheit. Ganz besonders aber im Herbst, wenn das Laub fällt und der Winter naht, sehnt sich das Herz nach Geborgenheit, die in der Stille der viereinhalb Matten des Teeraumes ihren Frieden findet:


Aki chikaki
kokoro no yoru ya
yo jo han

Der Herbst kommt heran.
das Herz erfüllt von Sehnsucht:
viereinhalb Matten!



Der Teeraum auf dem Feuerberg hat – wie es sich für einen japanischen Teeraum gehört – auch einen traditionellen Namen: Hōrai-An. Der Hōrai-San ist der Götterberg der japanischen und chinesischen Mythologie. Er liegt ganz weit im Nordosten. Dort wohnen die Glücksgötter und sie senden ihre Gaben auf einem Schatzschiff zu den Menschen. Die Gaben sind langes Leben, Weisheit, Schönheit und Harmonie, Musikalität, Tapferkeit und Wohlergehen. ‚An‘ ist eine kleine Klause, in die man sich zurückzieht, um dort bei Studien, Musik und Poesie den inneren Frieden zu finden. Ein klein wenig ist ja auch der Feuerberg ein Ort der Stille und des Rückzugs von der Hektik des Alltags. Was passt also besser zu dem Teeraum am Feuerberg als »Klause am Götterberg«.
In der Schmucknische hängt die Schrift eines alten Zenmeisters aus dem Daitokuji Tempel, die er im Alten von 90 Jahren geschrieben hat:

DOKU SA DAI JU HŌ – Allein sitzen auf dem Gipfel des Dai-Jū Berges.

Der Dai-jū Gipfel liegt in einer zerklüfteten Gebirgsgegend Chinas. Wörtlich bedeutet der Name Dai-Jū: Großer Held. Damit wird Buddha selbst bezeichnet. Nahe des Gipfels hatte sich der Zenmeistern Hyakujō seine winzige Hütte neben einem mächtigen Wasserfall gebaut. Hyakujō hatte den Namen des Berges angenommen, denn das ist ein anderer Name des Dai-Jū Berges. Ein Mönch fragte den Meister Hyaku-Jū / Dai-Jū: »Was ist das größte Wunder?« Der Meister antwortete: »Allein auf dem Gipfel des Berges sitzen!« Jeder Ort, an dem wir in die Stille kommen, wird zum Dai-Jū Gipfel. Dazu muss man nicht nach China reisen.
Nichts Besonderes: Einfach nur sitzen! Fern von jeder Hektik gemeinsam die Stille genießen und den Stimmen der Natur lauschen! Vielleicht auch einfach beim Gesang des Teekessels und einer Schale Tee.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Philosophie, Teeweg, Zen und Tee veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.