…. und wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.
Hölderlin: Der Archipelagos
Kaum hat das Jahr der Schlange begonnen und schon kommen schlimme Nachrichten von Krankheiten an diesen stillen Ort.
Manchmal erstarren wir geradezu vor Schreck vor solchen Nachrichten, manchmal verfallen wir in rasende Hektik. Warum gerade jetzt und warum gerade dieser Mensch? Aber das Schicksal fragt nicht nach Verdienst und Ruhm oder nach Gerechtigkeit und Ausgleich. Im Daodejing heißt es:
Himmel und Erde sind unparteiisch
Strohunde sind ihnen alle Dinge.
Strohhunde werden für bestimmte Zeremonien geflochten. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, sind sie nutzlos und werden achtlos beiseite geworfen und verbrannt. Bei Homer heißt es immer wieder, wenn einer der Heroen ein Opfer für Zeus brachte: „Dankend nahm Zeus das Opfer an, aber die Bitte erfüllte er nicht.“ Gott, das Schicksal, die Zeit oder was auch immer für eine Macht da wirkt ist unbestechlich.
Was soll man tun in solchen Zeiten? Hektische Aktivitäten entfalten? Oder ist das nur ein Davonlaufen vor der Macht der reißenden Zeit?
Hölderlin hat in seinem Gedicht „Der Archipelagos“ eine Antwort gegeben. Die Zeit bringt immer Veränderungen mit sich. Meistens hoffen wir, dass es positive Veränderungen sind. Aber manchmal erkennt man erst im Nachhinein, dass es gut so war, wie es gekommen ist. Hölderlin nennt das ‚Wechseln und Werden‘ die Göttersprache, die es zu lernen gilt.
Der Meeresgott der Griechen tönt immer noch, obwohl die alten Kulturen längst schon weg gerissen worden sind. Die Menschen verehren den Archipelagos, wie Hölderlin das Meer der Griechen nennt, nicht mehr als einen Gott, aber die Natur bleibt stets die Selbe wie immer schon.
Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon
Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Wogen, o Meergott!
Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern Furchtlosrege der Geist dem Schwimmer gleich …
die Göttersprache das Wechseln Und das Werden versteh‘
Was bleibt uns denn auch sonst, als – dem Schwimmer gleich – mit zu schwimmen auf den Wogen des tobenden Meeres? Auf der japanischen Malerei aus dem 13. Jhdt. sieht man unten die Menschen, die verzweifelt versuchen, ihr Hab und Gut zu retten. Aber oben erkennt man einen buddhistischen Mönche, der gelassen auf einem Floß aus Zweigen ruht, und meditierend auf das tosende Wasser schaut: in der Ruhe liegt die Kraft.
Das Gegenbild der in sich ruhenden Stille, die große Kraft schenkt und die Menschen in ihrem Schicksal miteinander verbindet, ist das hektische Treiben, in das wir normalerweise verfallen. Aber können wird denn unser Schicksal wirklich verändern? Vielleicht vereinsamen wir in der Hektik unseres Treibens? So jedenfalls sagt es Hölderlin in seinem Gedicht:
Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.
Bis erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen …
„Ans eigene Treiben sind sie geschmiedet allein.“ Diese Wendung ist in ihrer Doppeldeutigkeit ein typischer Hölderlin. Die Menschen sind allein – lediglich und ausschließlich – besinnungslos an das eigene Treiben geschmiedet, das heißt unfrei angekettet. Dadurch sind sie zugleich allein, jeder nur für sich. Niemand hört auf den Anderen. Aber alles hektische und rastlose Bemühen bleibt unfruchbar, weil es nicht auf die Zeit und ihren Gang hört. Erwachen wir aus dem ‚ängstigen Traum‘ und erinnern uns an die Kraft, die in der Tiefe der Natur und in der Tiefe unseres eigenen Wesens liegt.
Auch der Tod ist nur ein Teil der Göttersprache des Wechselns und Werdens.
Und das Leben ist ein Traum, den wir träumen.