Begeisterung

Gerade schreibe ich wieder mal an einem Buch über Hölderlin. Dabei bin ich auf einen Text gestoßen, in dem Hölderlin über die Begeisterung schreibt:

Es giebt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, giebt es eine unendliche Stufenleiter.
Auf dieser auf-und abzusteigen ist Beruf und Wonne des Dichters.

Nun, Hölderlin war ein Dichter und wie man gewöhnlich denkt noch dazu ein romantischer. Wir ’normalen‘ Menschen brauchen keine Begeisterung um unseren Pflichten nachzukommen. Täglich läuft der gewohnte Trott des Alltags.

Kann man den Alltag und die täglichen Aufgaben bewältigen ohne Begeisterung? Man sagt, dass man einen Hund nicht zum Jagen tragen kann. Doch, kann man, nur wird er nicht Jagen, wenn er keine Lust dazu hat. Es sei denn, wir haben ihn zu einer dressierten Jagdmaschine erzogen. Irgendwie sind wir alle mehr oder weniger solche dressierten Maschinen, die ihren Job erledigen. Nicht aus Begeisterung, sondern weil wir gelernt haben, dass man das so macht.
Nur manchmal müssen wir irgend etwas ungewöhnliches tun, damit das Leben ein wenig Farbe bekommt. Und wenn wir auf einer Party ‚abhängen‘! Und je trister und fader der Alltag abläuft, desto intensiver muss die ‚Freizeit‘ gestaltet werden, damit wir das Leben überhaupt noch spüren.
Im Internet habe ich dazu einen Text von dem Hirnforscher Gerald Hüther gefunden.

Für ein kleines Kind ist noch fast alles bedeutsam, was es erlebt, erfährt und unternimmt. Aber je besser es sich später in seiner Lebenswelt einzurichten und zurechtzufinden gelernt hat, desto unbedeutender wird alles andere, was es in dieser Welt sonst noch zu entdecken und zu gestalten gibt. Wir sind gefangen in Routine. Indem wir älter werden, Erfahrungen sammeln und unsere Lebenswelt nach unseren Vorstellungen gestalten, laufen wir zunehmend Gefahr, im Hirn einzurosten. Wir kennen „unsere Pappenheimer“ und wissen „wie der Hase läuft“. Wir erledigen unseren Job. Wir machen, was getan werden muss. Wir funktionieren. Der Preis dafür ist hoch: für uns verliert das Leben seinen eigentlichen Reiz. Alles ist gleichermaßen bedeutsam oder unbedeutsam. Wir haben zwar unser Leben optimal in den Griff bekommen; unsere kindliche Begeisterungsfähigkeit mit seinen ganzen Reizen für unseren Geist haben wir aber bis zur Leblosigkeit abgewürgt.

Leider ist vielen Erwachsenen genau das, weitgehend verloren gegangen was einem Kind die pure Lebensfreude vermittelt: die Begeisterung. Zwanzig bis fünfzig mal am Tag erlebt ein Kleinkind einen Zustand größter Begeisterung. Und jedes Mal kommt es dabei im Gehirn zur Aktivierung der emotionalen Zentren. Die dort liegenden Nervenzellen haben lange Fortsätze, die in alle anderen Bereiche des Gehirns ziehen. An den Enden dieser Fortsätze wird ein Cocktail von neuroplastischen Botenstoffen ausgeschüttet. Diese Botenstoffe bringen nachgeschaltete Nervenzellverbände dazu, verstärkt bestimmte Eiweiße herzustellen. Diese werden für das Auswachsen neuer Fortsätze, für die Bildung neuer Kontakte und für die Festigung und Stabilisierung all jener Verknüpfungen gebraucht, die im Hirn zur Lösung eines Problems oder zur Bewältigung einer neuen Herausforderung aktiviert worden sind.


Das ist der Grund, warum wir bei all dem, was wir mit Begeisterung machen, auch so schnell immer besser werden. Jeder kleine Sturm der Begeisterung führt gewissermaßen dazu, dass im Hirn ein selbsterzeugtes Doping abläuft. So werden all jene Stoffe produziert, die für alle Wachstums- und Umbauprozesse von neuronalen Netzwerken gebraucht werden. So einfach ist das: Das Gehirn entwickelt sich so, wie und wofür es mit Begeisterung benutzt wird.

Deshalb ist es entscheidend, sich als Heranwachsender oder Erwachsener diese Begeisterung zu bewahren. Leider erleben wir im Laufe unseres Lebens alle zu oft das Gegenteil. Wir stellen fest, dass uns die anfängliche Begeisterung, mit der wir uns als kleine Entdecker und Gestalter unserer Lebenswelt auf den Weg gemacht haben, beim Älterwerden zunehmend abhanden kommt. Denn wie oft überwältigt uns heute noch ein Sturm der Begeisterung? Einmal pro Tag, einmal pro Woche? Einmal im Monat?


Wenn ich mich frage, wie oft mich der Sturm der Begeisterung ergreift, dann muss ich zugeben, das es ziemlich oft geschieht. Obwohl ich mich jetzt seit vielen Jahrzehnten mit Hölderlin befasse und obwohl ich den Text, den ich jetzt überarbeite schon vor einigen Jahren geschrieben hatte, entdecke ich täglich, ja fast stündlich Neues, was regelmäßig Begeisterungsstürme hervorruft.

Es ist ein Text über das Gedicht „Hälfte des Lebens“. Der erste Teil schildert die Fülle einer innigen Beziehung in Liebe, der zweite Teil die Kälte der Trennung.
Es ist fast so wie Hüther in seinem Text schreibt: Dem Kind ist fast noch alles bedeutsam, im Alter (wann beginnt das Alter? mit 20, 40, 50 oder auch erst mit 90 Jahren?) haben wir „unsere kindliche Begeisterungsfähigkeit mit seinen ganzen Reizen für unseren Geist  bis zur Leblosigkeit abgewürgt“.
Muss das so sein?
Hölderlin meinte vermutlich mit dem Titel „Hälfte des Lebens“ nicht zwei Lebensabschnitte der Jugend und des (trostlosen – ?) Alters. Im ersten Teil wird die Ganzheit in einer Verbindung der Gegensätze erlebt, im zweiten der Fehl der „anderen Hälfte“, die uns fehlt um wieder ganz zu sein. Die Betonung liegt eindeutig auf „wieder“. Denn wir können immer wieder unsere Ganzheit zurück gewinnen.

Werden wir im Alter wieder wie die Kinder: entdecken wir voller Begeisterung stets das Neue und Aufregende in unserem Leben.

Hüther fragt in einem seiner Vorträge, ob ein 85 jähriger Mann noch Chinesisch lernen kann. Vermutlich nicht in der Volkshochschule. Aber wenn er eine hübsche junge Chinesin von 65 Jahren kennen lernt und sich in sie verliebt und sie ihn auffordert nach China in das Dorf Cheng Ching zu ziehen, dann wird er in einem halben Jahr Chinesisch gelernt haben!

Aus Begeisterung!

P.S.: Als ich diesen und andere Texte von Hüther gefunden habe, bin ich aufgeregt vor Begeisterung durch die Wohnung und den Garten gerannt! Da ist noch einer, der so denkt, wie ich! Es braucht keine Rennwagen und keine Party, um Begeisterung im Leben zu spüren!

 

 

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