Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Haiku und Zen
Nein, ein Haiku ist keine Kreuzung von Fisch und Rindvieh und auch keine japanische Kuh, die statt ‚MU – Nicht‘ immer nur ‚HAI – Ja‘ ruft. Es ist eine japanische Versform, die versucht, den gegenwärtigen Augenblick in knappen 5 – 7 – 5 Silben1 festzuhalten und poetisch zu gestalten.
Günter Wohlfart, der als ganz gewöhnlicher Philosophieprofessor gelehrt, sich dann aber mehr und mehr der ostasiatischen Weisheit zugewendet hat, nennt sein Büchlein über Haiku:2
»Zen und Haiku: Mu in der Kunst Haikühe zu hüten
nebst anderen Texten für Nichts und wieder Nichts.«
Also ist das Verfassen von Haiku3 eine Zenkunst wie der
Teeweg oder die Zen-Shakuhachi, zwei Künste, die ich seit
vielen Jahren übe und praktiziere?
Beim Shakuhachi Spiel, dem Spiel mit der Bambusflöte,
gehen die Meinungen in Japan ein klein wenig auseinander.
Es gibt die Meinung, das Shakuhachi Spiel sei ursprünglich
von Zen Mönchen praktiziert worden und darum ganz klar
eine Praxis des Zen. Aber es gibt in Japan nur noch einen
einzigen Zenpriester, der in einer über dreihundertjährigen
Überlieferungslinie das Spiel der Zen-Shakuhachi in seinem
Tempel unterrichtet. Ich selbst spiele in dieser Tradition.
Wir nennen unser Instrument auch nicht Shakuhachi sondern
Hō-chiku – Buddha Gesetz Bambus oder Dharma
Bambus. In unserer Tradition heißt es: ‚Ichi On – Busshin‘
‚Ein Ton – Buddhaherz.‘ Wir spielen keine Melodie, sondern
immer nur: JETZT DIESEN TON. Das Spiel soll fließen wie
Wasser und Wolken, die unbekümmert ihre Wege ziehen.
Immer im Jetzt.
Die andere Meinung, vertreten von Spielern der Kinko
Linie, in deren Tradition die meisten Shakuhachi Spieler
heute stehen: »Wer meint, das Shakuhachi Spiel habe in
irgendeiner Weise mit Zen zu tun, der ist naiv oder
dumm!« Tatsächlich ist für die meisten Japaner das Spiel
dieses Instrumentes keine Zen – Übung, sondern einfach
nur Musik. Aber vielleicht kommt es nicht auf die tatsächliche
Anzahl der Spieler in der jeweiligen Richtung an, sondern
auf den Geist, in dem man das Instrument spielt. Es
KANN eine Zen-Übung sein oder auch einfach nur Musik.
Genauso verhält es sich mit dem Teeweg. Ursprünglich
galt das Wort: »Cha Zen – ichi mi« »Tee und Zen: Ein
Geschmack.« Wir waren auf Einladung chinesischer Zen-Mönche
in Südchina und haben an einer Konferenz teilgenommen,
bei der es genau um diesen Spruch ging. In der
wissenschaftlichen Diskussion auf der Tagung ging es
lediglich darum, welcher der frühen Zenmeister Chinas
diesen Spruch geprägt hatte. Niemand bezweifelte, dass
Tee und Zen eins sind. Aber in Japan hört man in den etablierten
Schulen des Teeweges: »Tee ist Tee und Zen ist Zen!«
Mit anderen Worten: Wer meint, dass der Teeweg irgendetwas
mit Zen zu tun hat, ist entweder dumm oder naiv.
Der Teeweg ist für die meisten Japaner zu einer Unterhaltung
oder einer Art von Gesellschaftsspiel geworden. Man
trifft sich, trägt traditionelle Kimono, plaudert ein wenig
und trinkt Tee. Aber das hat nur noch wenig gemein mit
dem Zengeist, in dem die früheren Meister, allen voran Sen
no Rikyū4 den Teeweg geübt haben. Vielleicht müssen wir
wieder zurückkehren in die Ursprünge der Teekunst und
wieder lernen, dass Tee und Zen eins sind.
Ähnlich verhält es sich mit der Kunst, Haiku zu schreiben.
Die Mehrheit der vielen tausende Mitglieder der zahlreichen
Haiku – Vereinigungen in Japan würde wohl sagen:
„Haiku schreiben ist eine Form von Literatur oder Poesie.
Es hat überhaupt nichts mit Zen zu tun!“ Sicher wäre der
wohl berühmteste Haiku – Dichter Japans Matsuō
Bashō5 da ganz anderer Meinung. Er hatte sich intensiv im
Zen geübt. Danach änderte sich die Form seiner Haiku und
er gab dieser Kunst einen tiefen Inhalt, der bis heute nachwirkt.
Haiku ist die Kunst der Wahrnehmung des konkreten
Augenblickes und der Bewahrung in gestalteter
Form. Es ist Zen der Achtsamkeit.
Denn nicht nur das stille und unbewegliche Sitzen auf
dem Sitzkissen ist Zen. Zenmeister Dōgen Zenji spricht
zwar davon, dass nur das Sitzen allein die Übung des Zen
sei, aber im rechten Geist geübt, ist jede alltägliche Handlung
„Sitzen“.
Der alte chinesische Zenmeister Jōshū 6 wurde einmal
gefragt, was das Selbst sei. Er antwortete mit einer Gegenfrage:
„Hast du deinen Reisbrei schon gegessen? Dann
wasch deine Schale!“ Das Waschen der Schale soll Zen sein?
Ja, aber nicht jedes Waschen von Ess-Schalen ist Zen. Es
kommt auf die Einstellung dazu an. Als Meister Jōshū noch
Schüler bei Nansen war, fragte er ihn einmal danach, was
der WEG sei. Nansen antwortete: „Der alltägliche Geist –
das ist der WEG!“7
Der alltägliche Geist – Hei Jo Shin – kann der Geist sein,
der stets gleichbleibend gelassen und ruhig ist. Aber auch
das ganz Gewöhnliche, Alltägliche kann damit bezeichnet
werden. Das Waschen der Reisschale ist das ganz Alltägliche,
Gewöhnliche. Aber mit ruhigem Geist und stillem
Herzen ausgeübt, ist es Zen.
So kann auch das Gestalten von Haiku eine Übung sein,
das Alltägliche, genau in diesem Augenblick Anwesende
wahrzunehmen und bewusst zu gestalten.
Der Zen wurde einst von Buddha wortlos übertragen, als
er auf dem Geierberg vor einer riesigen Versammlung predigte.
Zenmeister Dōgen Zenji erzählt die Geschichte von
der Weitergabe in seinem Werk Shōbōgenzō, der ‚Schatzkammer
des wahren Dharma Auges‘ im Kapitel Udonge:
»Vor einer Versammlung von tausenden Anwesenden
auf dem Geiergipfel hielt der Tathagata (der
weltgeehrte Buddha) eine Udumbara-Blüte empor,
drehte sie wortlos in seinen Fingern und machte
mit seinen Augen ein Zeichen. In diesem Augenblick
erschien ein Lächeln auf Mahakasyapas
Gesicht und der Weltgeehrte sprach:
»Ich habe die ‚Schatzkammer des wahren Dharma-Auges‘
(Shōbōgenzō) und den wunderbaren Geist
des Nirvana. Ich übertrage sie an Mahakasyapa.«
Udonge ist die japanische Bezeichnung für die Udumbara
Blüte. Sie blüht nach der indischen Legende nur alle
dreitausend Jahre einmal. Sie erblüht genau in dem Augenblick,
als der ‚Weltgeehrte‘ sie emporhält. Aber warum sieht
nur Mahakasyapa als Einziger die Blüte, alle anderen bleiben
blind?
Die Blüte, die der Weltgeehrte emporhält und dreht, ist
eine ganz besondere Blüte. Es ist die Blüte einer kleinen
indischen Feige, die sehr häufig vorkommt, die aber scheinbar
niemals blüht. Lediglich die kleinen Feigen wachsen
dicht an dicht direkt an den Zweigen. Eine Verwandte
dieser Feige steht sogar als Staubfänger in vielen deutschen
Wohnzimmern – der Ficus benjaminii, die Birkenfeige.
Tatsächlich haben die Feigen eine botanische Besonderheit.
Ihre weiblichen Blüten, die später die Frucht bilden,
erscheinen nicht außen, für alle sichtbar, sondern im Inneren
einer unscheinbaren Hülle, die schon wie die spätere
Feige aussieht. Im Inneren dieser Hülle blüht nicht nur eine
Blüte, sondern ganz viele, dicht an dicht. Eine besondere
Wespenart schlüpft durch ein winziges Loch in der scheinbaren
Frucht und bestäubt die Blüten. Dann schließt sich
die kleine Öffnung und die Wespe ist gefangen und wird
von der werdenden Frucht verdaut. Die Blüte der Udonge –
Udumbara blüht unsichtbar für die ‚normalen‘ Augen im
Inneren der scheinbaren Frucht. Dogen sagt, dass wir
unsere normalen Augen verlieren müssen, damit sich das
Dharma Auge öffnen kann. Dann sehen wir nicht die
Außenhülle, sondern das verborgenen Innere. Die Udumbara
blüht nur deshalb so selten, weil niemand einen Blick
für das Verborgene, Innere hat. Sie ist überhaupt nichts
Besonderes, sondern derart gewöhnlich, dass niemand sie
sieht.
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1 Die Einteilung in 5 – 7 – 5 Silben entspricht nicht der japanischen
Sprache. Die japanische Sprache ist stark geprägt von der Zeitdauer
der langen und kurzen Silben, den moren (lateinisch von mora –
Zeitdauer). Ähnlich wie im Altgriechischen bildet sich das ‚Versmaß‘
aus der Zeitdauer der Silben. Alle griechisch antiken Versmaße
beruhen auf der Verteilung von langen und kurzen Silben. Ein
Hexameter besteht aus sechs ‚Füßen‘ mit je zwei langen Zeiteinheiten.
Eine lange Zeiteinheit kann durch zwei kurze oder eine lange Silbe
gebildet werden, also beispielsweise entweder ‚kurz – kurz – lang‘
(Daktylos) oder ‚lang – kurz- kurz‘ (Anapest) oder lang – lang. Im
Hochdeutschen gibt es zwar auch lange und kurze Silben, die aber
nicht wirklich fest sind. Das deutsche Wort Vater wird normalerweise
als Vaater gesprochen, im Alltag oder in Dialekten kann es auch Vatter
oder Fadder heißen. Es hat sich deshalb in den deutschen
Haikukreisen eingebürgert, einfach die Anzahl der Silben zu zählen.
In der japanischen Sprache ist die Verteilung von langen und kurzen
Silben wesentlich für das Verständnis des Wortes. Eine falsche
Zeiteinheit der Silbe macht das Wort für den Japaner unverständlich.
In der Regel wird eine Silbe / Zeiteinheit durch ein Zeichen des
japanischen Silbenalphabetes gebildet. Die Städtenamen Ōsaka und
Sendai sind beide viermorig: おおさか O-o-sa-ka、せんだい Se-n-da-i.
Also auch das eingeschobene ‚n‘ ohne dazugehörigen Vokal bildet
eine Zeiteinheit.
2 Günter Wohlfart: Zen und Haiku – Mu in der Kunst Haikühe zu
hüten. Reclam, ISBN 978-3-15-009647-5
3 Die japanische Sprache kennt keine gramattische Unterscheidung
zwischen Singular und Plural, maskulin, neutrum oder feminin.
Darum steht Haiku immer ohne Artikel. Es gibt nicht den, das oder
die Haiku und der Plural ist ebenfalls einfach Haiku. Wohlfahrt
benutzt den Plural lediglich als ein Sprachspiel.
4 Sen no Rikyū 1522 – 1591, er gilt als einer der wichtigsten Teemeister
Japans.
5 Matsuō Bashō, 1644–1694, eigentlich Matsuō Munefusa. Er nannte
sich nach der Bananenstaude – Bashō – die neben seiner Hütte wuchs.
Er liebte sie so sehr, weil der Regen auf den Blättern der
Bananenstaude ein so schönes Geräusch verursachte.
6 Zhàozhōu Cōngshěn (Chinesich 趙州從諗; Wade-Giles: Chao-chou
Ts’ung-shen; Japanisch: Jōshū Jūshin) (778–897)
7 平常心是道 japanische Lesung: Hei Jō Shin kore Dō. Hei: einfach, flach, eben, – gleichmäßig. In Kombination mit Harmonie: 平和 Hei-wa, Ruhe, Frieden. 常 Jo gewöhnlich, regelmäßig, immer.
Kisetsu – Zeiten des Jahres
Frühling
Heute ist der erste März.
Meteorologisch gesehen ist der 1. März der erste Frühlingstag.
Heute am Sonntag ist es ganz still. Kein geschäftiges Treiben der Bauern. Das ganze Land liegt verborgen unter einer dichten Decke von nebligem Dunst.
Wird es jetzt Frühling!?
Geheimnisvoll liegt das Land im Frühlingsnebel.
Im Frühlingsdunst bereiten sich die Blüten vor, die lange schon gewartet haben, um endlich aufzubrechen.
Aber nein, es wird immer kälter und langsam wandelt sich der Nebel in kalten Regen.
Und dann kommt der Schneesturm. Das ganze Land verschwindet im Schnee.
Sogar der kleine Hund schläft den ganzen Tag und geht nur ganz kurz in den Garten.
Heute Nacht hat es weiter geschneit und immer noch
fallen dicht die Flocken. Der Bambus neigt sich unter der
schweren Last des frischen Schnees. Unbeugsam reckt die
alte Kiefer ihre schneebedeckten Äste in den Himmel.
Schneeflocken sitzen auf den Zweigen wie kleine weiße
Pflaumenblüten.
Nicht nur die Krokusse, auch das ganze Land ist unter
einer dichten Schneedecke verschwunden.
Erster Frühlingstag!
Verwirrte Meisen im Schnee
Suchen nach Futter!
Erster Frühlingstag!
Unten auf der Straße
Blinkt das Räumfahrzeug!
Verborgen im Schnee
Schlafen gelbe Krokusse.
Verwirrte Meisen.
Die alte Kiefer!
Sind es Blüten, die sie treibt?
Ach – es ist nur Schnee!
Aber schon ein paar Wochen später ist der Schnee verschwunden.
Über dem Land wirbeln wieder weiße Flocken wie Schnee, wenn an Feiertagen des Frühlings aufgegangen das Tal. All die grünenden Bäume, zahllos blühend weiß, wallend in wiegender Luft.
Wie ein weißer Sturm
Decken blühende Bäume
Hügel und Hänge.
Weiße Kirschblüten
bedecken mein Haupt mit Schnee
Im wirbelnden Wind.
Fallende Blüten
beim Tee unter dem Kirschbaum
Färben mein Gewand.
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….
….
Herbst
Unter dem Herbstmond
Sah ich Blumen auf dem Feld!
Ach – es war nur Stroh.
Raureif am Waldrand –
Zaubert das Bunte ins Laub
aus dem reinsten Weiß
Im Herbst des Lebens
Kommt noch einmal die Farbe
Ins schneeweiße Haar?
Novemberabend:
Golden leuchtet der Ginko –
Vergehende Pracht!
Raureif auf Tannen!
Alles wandelt sich in Weiß.
Novembernebel.
Ist es Schnee im Haar
Oder das Weiß des Alters?
Der Winter ist nah!
Kiefern am Berghang
Weiß gezuckert im Raureif
Haben keine Farbe.
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Winter
Knorrige Kiefer
Windet sich am steilen Hang.
Schwer lastet der Schnee.
Eisiger Winter.
Riesig steht der kalte Mond
Über weißem Feld.
Die Nacht ist noch jung.
Auf der frostigen Straße
der Schatten des Rehs.
Kalter Wintermond
drei Mäuse erfroren im Schnee
so dunkel die Nacht.
Kalter Wintermond!
Silbern die Landschaft vorm Haus.
Wo bleibt das Taxi?
Schwer neigt sich der Zweig
Kein Geräusch ist zu hören
In der Winternacht.
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