Sprachlos und kalt

Seit fast zehn Monaten sitze ich jetzt an meinem Buch über Hölderlin. Nein, eigentlich seit dreißig Jahren. Das Thema ist das kleine Gedicht „Hälfte des Lebens“. Schon während meiner Zeit als VHS Philosophie – Dozent haben wir immer wieder Wochenendseminare und Kurse über Hölderlin gehabt. Das Thema des kleinen Gedichtes hat mich immer wieder gefesselt. Vor fast zwanzig Jahren habe ich dann einen Text darüber geschrieben, der auch im Internet veröffentlich ist.

Aber mir hat in diesem Text zu viel gefehlt. Darum habe ich mich vor zehn Jahren daran gesetzt, den Text zu überarbeiten und das Fehlende zu ergänzen. Aber dann kam der Winter. Zwar ein Winter ohne Corona, aber es war kalt und neblig und dunkel. Ich mochte oder konnte einfach nicht weiter schreiben.

Und wie es so ist, es passiert so vieles und das Projekt ist in Vergessenheit geraten. Dieses Jahr 2020 ist das Hölderlin Jahr. Im Fernsehen kam ein Film über das Leben Hölderlin, seine „Entführung“ nach Tübingen und seine Zeit in der Tübinger Authenrietschen Klinik.
Ich war zwar fast fertig mit einem Buch über das Daodejing, über nun war Hölderlin wichtiger.

Aber was tut man mit Texten, die vor zehn Jahren geschrieben wurden? Da passt nichts mehr. Man ist älter geworden und vielleicht weiser? Vielleicht nicht weiser, aber weißer auf jeden Fall!Also heißt es, alles vergessen und ganz von vorn beginnen. Das war manchmal so frustrierend, dass ich mein Buch über meine Hunde zwischenrein als Erholung geschrieben habe. Nun, wieder im November und durch Corona ohnehin ans Haus gefesselt nähert sich das Buch dem Ende.

Heute habe ich mir die Gedichtzeilen in der zweiten Strophe vorgenommen:

Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Da ist ein eigenartiger Rhythmus in den Versen. Die Mauern stehn – Pause. Dann beginnt es zu tanzen: „Spachlos und kalt“ . Die letzte Zeile klingt wieder wie der Titel des Gedichtes in einem eigenen Rhythmus: Hälfte des Lebens – Sprachlos und kalt.
Und dann habe ich eine Arbeit genau über diese Textstelle gefunden. Die erklärt alles. (Oder Nichts?) Da klirren die Worte sprachlos und kalt. Was für ein Glück, dass ich das nicht vorher gefunden habe. Denn dann hätte ich erkannt, dass ich so überhaupt nichts verstehe. Muss ich jetzt aufhören weiter zu schreiben? Schaut selbst:

„In der Tat haben die Enjambements und die »staccato-ähnliche Unterbrechung« der zweiten Strophe zur Folge, dass nicht der dritte Päon, der nach Klopstock und nach Moritz sehr schwungreiche und aufwärtsstrebende Dydimeus (»«!«),sondern der zweite Päon denVersfuß par excellence darstellt: »!««. Er zeigt sich mindestens vier Mal:»wo nehm ich, wenn«, »Es Winter ist«, »die Blumen, und«, »den Sonnen-schein« sowie »Die Mauern stehn«. Für Moritz ist der zweite Päon dissonant, da er in den abtaktigen zwei Senken doppelt abfällt. Damit verliert die zweite Strophe wegen der leicht nachverschobenen Verszäsur an Schwung und fällt wiederholt in sich zusammen und damit in die Leere der Zäsur zu-rück. Umso deutlicher tritt sodann der akephale Pherekrateus »Und Schatten der Erde« hervor. Er steht parallel zum gleich rhythmisierten fünften Vers der ersten Strophe »Und trunken von Küssen« und verweist auf die Oralität, auf das gesprochene Wort. Im Gegensatz dazu »stehn« die bloßen Schriftzeichen »sprachlos«, und die »Blumen« der Rhetorik sind in der bloßen Schriftlichkeit in visuellen Zeichen erstarrt. Die »Schatten der Erde« werden so alsSchrift zum Ort der Zeitlichkeit, der trunkenen vergänglichen Dichtung, was erst durch die eigenrhythmische Rückbezüglichkeit und Entfaltung möglich wird. Doch nur der Ort, das »Dort« der Schrift kann die Mehrdeutigkeit, die durch die Zäsur zustande kommt, aufzeigen und so das Wort in seiner Bewegung lebendig halten. Damit erhält die vormals erstarrte Schriftlichkeit eine Umwertung. Denn erst sie beinhaltet das ganze Potential des gesprochenen Worts. Die äolischen Periodisierungen in der ersten Hälfte des Gedichts sind durchwegs in einer antiken Quantitätsrhythmik gehalten, während die kata-metron-Passagen der zweiten Hälfte sich stärker an eine deutsche Taktrhythmik anlehnen.“

Zitat aus: Boris Previšić Hölderlins Rhythmus

Alles klar?
Wie gut, dass es Wissenschaft gibt!

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5 Antworten zu Sprachlos und kalt

  1. Muone sagt:

    Ok, damit ist ja nun wohl alles gesagt.
    Wahrscheinlich jedenfalls.
    Oder möglicherweise, bestimmt!

    Aber vielleicht kann man das irgendwo übersetzen lassen? Ich meine: Nur so sicherheitshalber…

  2. Gabriel Shivers sagt:

    Viele Wörter, wenig Herz…

    Natürlich ist es außerordentlich präzise analysiert, aber dennoch geht es am Wesentlichen vorbei. Ein gutes Gedicht ver“dichtet“ das Unsagbare in Worte (nicht bloße Wörter!). In Form, Rhythmik, Lautwesen und vielen anderen Aspekten, wird das Große des Inhalts sich im Kleinen widerspiegeln. Es lässt sich freilich alles zum vertieften – zuweilen auch zum besseren – Verständnis analysieren. Das ist meines Erachtens jedoch der Sache nur dann dienlich, wenn die notwendigerweise darauf folgende Synthese den Hörenden von dieser Erörterung bereichert und beschenkt das Gedicht – und damit sich selbst und die Welt – neu und tiefer erfahren lässt. Alles andere ist nur das Gesumme von Fliegen…

  3. Gabriel Shivers sagt:

    Ach, ich sitze jetzt seit – wie lange eigentlich? – gedankenverloren vor meiner Tastatur. Es hat mich in eine lang vergangene Zeit zurückversetzt, die Zeit des Studiums, in der ich viele solcher Gedichte in eurythmische Choreographien umsetzen durfte. Rhythmus und Lautgestalt, Inhalt, Grammatik, Seelenfarben und die Art des Schreitens, die Vielfalt der Gestik… alles wurde zu einer Einheit. Impressionismus und Expressionismus verquickt in einem bewegten Augenblick, ja, ein Blicken der Augen, ein schauendes Auge, ein lauschendes Ohr, waren nötig, um die Aufführung zu vollenden. Kein Tanz ist denkbar ohne den Tanzenden, kein Tanz ist fertig ohne den Wahrnehmenden. So auch das Gedicht, das im Raumlosen die Seele in Farben und Empfindungen tanzen lässt… Die Sprache, das Wort, erklingt nur in uns zu voller Blüte. Gesprochen oder gelesen, bewegt sich das Erlebte im Raum, außen, oder innen…

    Jede dieser Zeilen dieses Textes, den ich noch nicht kannte – man lernt immer wieder weiter, bis zum letzten Tag! – bewegt sich, bewegt mich. Von den vielen Fazetten, von den vielen Möglichkeiten, sich diesem Text zu nähern, kann ich nur von meiner eigenen Erfahrung als Eurythmist herankommen. Es gibt ganz andere Wege. Ein Musiker, ein Komponist, wird anderes daraus schöpfen können. Ja, jede Zeile ist voller kleiner und kleinster Aspekte, die tiefer führen, die weiter hinaus drängen. Es drängt mich, die ersten Schritte zu versuchen, wo bleibe ich stehen, wo drehe ich mich, wo fange ich an, wo höre ich auf? Und angesichts der tausend Möglichkeiten kommt die Frage: was davon bin ich, und wer war Hölderlin zu dieser Zeit? Am Ende bleibt immer die Erfahrung: ich kann etwas „dazu“ tun, aber das Gedicht ist schon in sich „sich selbst“. Es ist ver“dichtet“. Es braucht mich nicht… oder doch? Wollen Worte nicht gesprochen sein? Hört nicht der Dichter das leise „Schreib uns!“? Hören wir nicht beim Lesen das leise: „Lies uns!“?

    So lese und spreche und tanze ich und lausche und schweige und sitze.
    Wenn ich anfangen würde, wäre ich versucht, immer weiter zu erzählen,vom Spiel der Laute „W“ in seiner Beweglichkeit im Auf und Ab, und vom „S“ in seiner hellen und dunklen Schärfe, von dem einen markanten „M“, das so final in einem „T“ zum Stillstand kommt. Auch die Vokale sind so bemerkenswert gesetzt: die dionysischen I E U, die apollinischen A und O Klänge, oder greife ich lieber zum Aspekt vom Ich-haften I vor dem Vergangenheits-A und dem Zukunfts O? Oder ist es das A als Abgrund und das O als umfassende Zuwendung? Nach und nach kristallisiert sich eine mögliche Choreographie heraus – meine Choreographie freilich – jeder wird sie anders gestalten, denn jeder von uns IST ein ANDERER. Ein Gedicht, viele Arten, damit zu leben. Nein, keine Sorge! Der Sensei schreibt schon ein Buch, das soll genügen!

    (oh – da fällt mir noch ein, dass die Wetterfahne im Englischen in der Tat „weathervane“ heißt. Dem deutschsprachigen Hölderlin fehlt da leider ein „W“, auch wenn das im Schwäbischen nicht ganz so weit auseinander liegt wie im Bühnendeutsch dieser Epoche. Doch das hemmende „A“ hinter dem nach innen gekehrten „Wisse, dass ich weiß“ gestalteten „F“, das im Wort Fahnen ins schicksalshaft kllindende „N“ mündet, ergibt schon für den Bühneneurythmisten eine sehr dramatische Schlussgeste… das kann aber auch ein bisschen „over the top“ gehen… wieso konnte man nicht einfach Fahnen mit „W“ schreiben?! Das hätte sich leichter tanzen lassen…)

    Was bleibt mir noch zu sagen? Mein Tee ist nicht dein Tee, und doch verbindet uns die Schale der grünen Unendlichkeit…so mag jeder den Hölderlin auf eigene Weise genießen! (Den Analytiker da oben, den würde ich nicht wirklich zu einer Schale Tee einladen wollen, da wird ja das Wasser kalt, bis der den Mund hält…)

    Der zweite Teil des Gedichtes ist eine Frage, die zu beantworten bleibt. Sie wird angesichts eines kommenden Winters gestellt. Ja, die Fahnen klirren im kalten Wind – was auch immer dann sein mag.

    Eine Antwort..

    Wenn draußen der Wind pfeift, wenn draußen der Sommer dem Winter gewichen ist, dampft der Kessel über der Rô – Feuerstelle. Für diesen einen Gast und nur für diesen, werde ich kein Tsutsu Chawan verwenden. Das ginge nur, wenn der Gast die Wärme im Inneren zu finden weiß. Das bedingt die Kraft der Er-Innerung. Dieser Gast hat aber die Befürchtung, seinen Sommer zu verlieren. Ein Sommer, in dem der Schwan, der zwischen den Welten, Luft, Wasser und Erde zu wandeln weiß, der im Sommer voller mondenhaft süßer Birnen und hängender (nicht aufgerichteter) rosenroter Selbst-Empfindung wie träumend über silbrigem Wasser das eigene Spiegelbild (Mond) bis zur Trunkenheit geküsst hat. Diesem Gast, der noch nicht (oder nicht mehr) in sich erstarkt ist, um dem Winter als Reife-Zeit zu begegnen, gebe ich entgegen allen Regeln einen Tee, der mit der gesundenden Wärme des Rô zubereitet wurde, in einer Hira-Chawan mit Blumen, die an die Fülle des Sommers erinnern- eine Chaire ganz in sanftem Weiß – der Chashaku aus Elfenbein (mit dem Namen Schwanenhals) – in der Tokonoma ein liegender runder Spiegel, oder ein SIlberteller, auf dem eine Rose liegt – Wagashi aus Birnenkonfekt und Rosenwasser.

    Beim Usucha kann man, wenn die Zeit reicht, alles einen Schritt weiter bringen. Der Gast soll um einen Atemzug gesünder aufstehen, als Hölderlin sich zum Schreiben hingesetzt hat… Das bleibe jedem selbst überlassen, wie das aussehen könnte…

    • Danke Gabriel für diesen schönen, sehr persönlichen Text. Da sieht man: Jeder liest den Hölder anders. Ja, er WILL GELESEN -NEIN! GESPROCHRN werden. Denn er ist Musik und Tanz zugleich.
      Ja das „W“ im Txt. Es tanzt sich dirch den Winter. Aber der Tanz beginnt schon vorher mit den Schwänen:

      „trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilginüschterne W-asser.
      W-eh mir W-o nehm ich w-enn es W-inter

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