TRIPURA RAHASYA

Der reine Spiegel des unendlichen Bewußtseins.

Die Tripura Rahasya ist keiner der klassischen Texte, die im Buddhismus von Indien über China ihren Weg nach Japan gefunden hätten. Er ist ein rein hinduistischer Text mit shaktischer Färbung.

Rahasya

Mit Rahasya – geheimgehalten – werden Sanskrittexte bezeichnet, die früher nur in Ashrams oder Einsiedeleien rezitiert werden durften. Tripura –wörtlich: drei Stätte – bezeichnet die drei Bewußtseinszustände: jagrat – Wachzustand, svapna – Traumzustand und sushupti – Tiefschlaf. Alle drei Bewußtseinszustände sind getrübt durch Wahrnehmungen, die das Bewußtsein färben. In den Upanishaden wird das Bewußtsein verglichen mit einem Vogel, der mit einer langen Schnur an einem Pfosten befestigt ist. Unruhig fliegt er immer wieder nach außen, wird aber jesdesmal wieder von der Schnur zurückgerissen. So kommt er zwar niemals zur Ruhe, verliert aber auch seine Mitte nicht – die formlose und ungetrübte Grundlage des.Bewußtseins, das Selbst. Dieses reine Bewußtsein wird in der Tripura Rahasya als die Göttin Tripura bezeichnet, die wie in einem Spiegel in sich selbst die ganze Welt, auch die Götter Brahma, Shiva und Vishnu erscheinen läßt.

Die drei Bewußtseinszustände - Das göttliche Paar

Die Göttin Tripura spricht auf die Bitten von Brahma und erläutert ihr Wesen: "Ich bin das Bewußtsein, welches den drei Zuständen Wachen, Träumen und Schlafen zugrunde liegt und ruhe auf vier Säulen: Brahma (Schöpfung), Vishnu (Erhaltung), Shiva (Zerstörung) und Ishvara (Auflösung)!"

"In konkreter Form verehrt man mich als göttliches Paar, als Höchsten Herrn und seine Ernergie". Der Höchste Herr ist Shiva, der jedoch niemals aus sich allein bestehen kann. Seine andere Seite, untrennbar mit ihm verbunden, ist Shakti, die in Indien in den verschiedensten Formen verehrt wird. Aber in Wahrheit ist Tripura das reine, ungetrübte Bewußtsein, ohne jede Form, nicht unterschieden von einem Anderen, das seinen Sitz im Herzen hat. Die Götter sind lediglich Projektionen auf dieses reine Bewußtsein. Damit ist die Trupura Rahasya letztlich "atheistisch". Vielleicht deshalb wurde der Text geheimgehalten und durfte nicht in den Stätten und Dörfern rezitiert werden.

Vedanta und Advaita-Vedanta

Der Verfasser der Tripura ist unbekannt, die Schrift dürfte aber im 10. Jhd. entstanden sein. Es ist eines der schönsten Werke des Advaita Vedanta, des Vedante von der Nicht-Zweiheit, aus dem Ramana Maharshi (1879 – 1950) immer wieder Beispiele zitierte. 1937 übersetzte sein Schüler Swami Ramananda Sarasvathi Teile des Werkes ins Englische.

Die Vedanta entstand in der Verfallszeit der Veden, als die brahmanischen Rituale verfestigt und zu erstarrten Formen verkommen waren. Eine Vielzahl von Opferritualen war täglich einzuhalten. Wenn auch nur eine einzige Silbe nicht korrekt ausgesprochen wurde, war das Opfer ungültig, was verheerende Folgen nach sich ziehen konnte. Daher begannen sich die Brahmanen auf bestimmte Arten von Opfern zu spezialisieren. Opfer konnten nicht mehr wie in der frühen vedischen Zeit vom Hausherrn selbst vollzogen werden und der Umgang mit dem Heiligen war auf Spezialisten einer besonderen Kaste beschränkt.

Aus Protest vor dieser Erstarrung zog eine Fülle von unabhängigen Geistern als "Hauslose" meditierend und Askese übend durch das nördliche Indien und suchte nach neuen Formen der Spiritualität und nach Befreiung vom Leiden. Inmitten dieser Aufbruchsstimmung zog auch ein junger Prinz Gautama aus dem Geschlecht der Shakya durch das Land, sammelte Schüler und Anhänger und wurde schließlich als der Buddha verehrt.

Die frühen Sutren sind daher noch von der geistigen Atmosphäre des frühen Vedanta geprägt, sie wirken oft wie scholastische philosophische Diskussionen.

Die Lehren des Tripura

Ganz anders die Tripura Rahasya, die in vielen Gleichnissen und geradezu märchenhaften Bildern spricht.

Parasurama, ein Brahmane, dessen Eltern und Verwandte von einer Kriegerfamilie erschlagen worden waren, zog - von Durst nach Rache getrieben 21 mal durch das Land und erschlug alle Ksattriyas, Mitglieder der Kriegerkaste, sogar Frauen und Kinder und sammelte ihr Blut in einem großen Becken. Erst als die Ahnen ihre Stimme erhoben, ließ er von diesem grausigen, völlig dem Geist der Brahmanen widersprechenden Tun ab und suchte den Guru Dattatreye auf, der ihn unterwies und zum Einüben der erhaltenen Lehren anhielt. So entsteht ein loser Rahmen, in dem verschiedene Texte gesammelt sind.

Handeln - Nicht Handeln

Der Guru beginnt seine Belehrungen, indem er zum Rückzug aus dem Handeln mahnt:

"Solange der Mensch sich vor dem Alpdruck des Handeln - Müssens ängstigt, muß er diesem Drang nachgeben, sonst wird er keinen Frieden finden. ... Die ganze Menschheit ist vom Gefühl des Verpflichtetseins zum Handeln und Wirken durchdrungen ... und dieser Sucht zum Opfer gefallen." Dieser Zwang zum Handeln, dem auch Parasurama verfallen war, ist blind. Die Menschen gleichen Reisende, die sich im Urwald verirrt haben, in ihrer Gier, den Hunger zu stillen nach giftigen Früchten greifen, als sie die Wirkung des Giftes spüren, blind ein vermeintliches Gegengift anwenden und allmählich ihren Zustand immer mehr verschlimmern. In der Dunkelheit gelangen sie schließlich zu der Stadt, erkennen sie aber in ihrer Tollheit nicht als ihr ursprüngliches Reiseziel und werden von den Wächtern erschlagen, verjagt oder in das Gefängnis geworfen. Nur Besonnenheit und Einsicht in das wahre Wesen des Bewußtseins kann die Menschen aus diesem Wahn retten und Befreiung bringen.

Bewußtsein und Traum

In der vedischen Tradition wird zwischen den drei Bewußtseinszuständen Wachheit, Traum und Tiefschlaf unterschieden. Auch der Traum ist eine Art des Bewußtseins, dem aber weniger Realität zukommt als dem Wachzustand. Anders als in der chinesischen Philosophie ist der geringere Realitätsgrad deutlich erkennbar. (Tshuang Tse: "Ich habe geträumt, ich sein ein Schmetterling. Jetzt, da ich erwacht bin, weiß ich nicht mehr, ob ich ein Mensch bin, der träumt er sei ein Schmetterling oder ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch!")

Traum und Wirklichkeit

Am Traum kann man nach der Tripura erkennen, wie das Bewußtsein arbeitet: es erzeugt ständig neue Bilder aus sich heraus. Die Dinge und die Welt, die erscheinen, sind reine Projektionen des Bewußtseins. Dies gilt für den Wachzustand in der gleichen Weise wie für den Traum. "Traum- und Wachzustand unterscheiden sich insofern voneinander, als der Traum im Wachzustand als illusorisch erkannt wird, indes der Wachzustand während des Träumens keine Beachtung, also auch keine Bewertung erfährt.".Dies sagt aber nichts über den Wirklichkeitsgrad des im Wachzustand Wahrgenommenen. Das Seil, das als Schlange wahrgenommen wird, müßte - so die Tripura - als wirkliche Schlange angenommen werden, solange, bis die Täuschung aufgeklärt ist, was nicht sein kann..Sie ist Täuschung. Dennoch ist Sie, ebenso wie das Seil selbst eine Spiegelung des Bewußtseins. Die Wahrnehmung der Schlange beruht also auf einer doppelten Täuschung – das Seil wird als für sich existierend angenommen obwohl es eine Spiegelung ist, und es wird darüber hinaus von einem nicht klaren, mit subjektiven Ängsten verfärbten Geist gespiegelt. "Die Qualität der reflektierten Bilder hängt von der Beschaffenheit der reflektierenden Fläche ab, wie wir es vom Spiegel und vom Wasser wissen." Damit die Bilder rein und ohne Täuschung sind, muß der spiegelnde Geist, der sogar Vorstellungen aller Art, Phantasiegebilde und Tagträume ohne jede Realität aus sich selbst hervorrufen kann, durch Übungen stets rein gehalten werden. Darum sind "selbstloses Handeln, Leidenschaftslosigkeit und Hingabe, die zur Reinigung des Geistes nötig sind" von so großem Wert. Nur derjenige, der sein eigenes Selbst aufgibt, kann den reinen Geist erleben.

Das reine Bewußtsein: ein Spiegel

Das reine Bewußtsein – identisch mit dem Selbst - ist wie ein klarer Spiegel, in dem sich die Dinge und die ganze Welt spiegelt. "Ein Kind mag versuchen, sein Bild im Spiegel zu erhaschen. Es denkt dabei nur an das Bild und schenkt dem Spiegel keine Beachtung. Ähnlich ergeht es dem Menschen, der so beeindruckt ist von seinen mentalen Reflektionen im reinen, leuchtenden Spiegel des Selbst, daß er den Spiegel nicht wahrnimmt, weil er mit dem Selbst nicht vertraut ist. Obwohl die Menschen den Raum kennen, nehmen sie ihn nicht wahr, weil sie ausschließlich mit den Objekten beschäftigt sind, die sich darin befinden."

Dattatreja erzählt seinem Schüler die Geschichte eines Prinzen, der sich auf der Jagd verirrt, eine wunderschöne Frau findet und sie heiratet. Diese schöne Frau wird zu seinem Guru und führt ihn nach mancherlei Stufen eines Übungsweges zur meditativen Betrachtung dieses reinen Bewußtseins -Spiegels. Er erlebt zunächst einen Zustand, in dem die Gedanken zum Stillstand kommen. "Im selben Augenblick verschwand alles und machte einer dunklen Leere Platz. Er glaubte, es sei das Selbst". Beim zweiten Versuch erscheint ihm ein grenzenloses helles Licht und beim dritten mal taucht er in einen tiefen Schlaf mit wunderbaren Träumen. Seine Guru – Frau erklärt ihm diese drei Zustände als die Formen des Bewußtseins, das jedesmal ungetrübt ist durch die Wahrnehmung von Dingen. Aber sie sind noch nicht das reine Selbst. Als er die Aufmerksamkeit "auf die kurze Spanne zwischen Gedankenkontrolle und Leere, die frei ist von Bemühungen" richtet, erlebt er ein tiefes Samadhi, einen Zustand reiner Glückseligkeit. Die Freiheit von Bemühungen ist geradezu die Voraussetzung für dieses Erleben: wollte man diesen Zustand durch Bemühungen erreichen, so gleicht man jemandem, der "versucht, dem eigenen Schatten auf den Kopf zu treten".

Erwachen im Alltäglichen

Als der Prinz sich sofort wieder in diesen Zustand zurückziehen will, erlaubt es ihm seine Guru – Frau nicht. "Der Zustand, der sich nach dem Schließen der Augen eingestellt hat, kann nicht der endgültige sein, denn dieses ist reines Bewußtsein und ewige Wahrheit. Sowenig, wie es eine Spiegelung ohne eine spiegelnde Oberfläche gibt, sowenig gibt es etwas, was nicht in diesem Bewußtsein enthalten ist!" Alles, auch das alltägliche Leben ist dieses Bewußtsein. Es gibt keinen Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit, dem Selbst und dem Nicht-Selbst.

Als dies der Prinz einsieht, verweilt er in dem klaren Zustand des Friedens, übernimmt aber die Regierungsgeschäfte, die Feinde des Landes verweist er in die Schranken und den Staatsschatz vermehrte er, so daß das Reich unter seiner Leitung erblüht. Auch sein Vater, seine Brüder, schließlich alle Untertanen seines Reiches erlangten den friedvollen Zustand der Befreiung im alltäglichen Leben. Der Prinz lebte noch 20 000 Jahre und schließlich rezitierten in seinem Reich sogar die Papageien und Kakadus die heiligen Worte:

"Meditiere, o Mensch, über das Selbst, das absolut reine Bewußtsein! Es gibt nichts außer ihm. Es ist wie ein aus sich selbst heraus leuchtender Spiegel, der in sich alle Objekte widerspiegelt. Dieses Bewußtsein ist zugleich Subjekt und Objekt, Belebtes und Unbelebtes. O Mensch, befreie dich aus den Fesseln der Täuschung ... verliere die nicht in Phantasien und Träumereien.".

Zustände des Samadhi

So wie die höchste Vollendung und Befreiung nur in der Verwirklichung des Alltags erlangt werden kann, ist dem unerleuchteten Alltag selbst die Erfahrung des reinen Geistes im Samadhi nicht fremd. Es gibt vielerlei Samadhizustände im gewöhnlichen Alltag, etwa "wenn jemand

Erwachen: Stillstand des Denkens

Sicher ließe sich die Liste fortsetzen. Allen Zuständen gemeinsam ist, daß das Denken bei absolut wachem Zustand völlig zum Stillstand kommt. In solchen Augenblicken handelt man auch nicht mehr, weil jede Form von Absicht fehlt. Dennoch ist z.B. im Augenblick höchster Gefahr in diesem Zustand die einzig richtige Reaktion möglich.

Das Fehlen von Gedanken oder Absichten allein genügt nicht. Dann wäre auch der traumlose Tiefschlaf ein Samadhi – Zustand. Doch hier ist der Spiegel des Bewußtseins dunkel, gleichsam "mit Teer verschmiert". Zwar spiegelt sich kein Objekt, aber "wird sich denn in einem Holzbrett, das vor ein einzelnes Objekt gehalten wird, dieses Objekt im Brett spiegeln? ... Ähnlich ist es mit dem Geist. Nur in einem wachen, regen Geist vollzieht sich die Verwirklichung des Selbst, in einem stumpfen ist dies nicht möglich.".

Das alltägliche Leben ist der Beginn der Befreiung. Aber die Menschen wissen nicht, daß sie den Schatz des Selbst immer schon besitzen so wie der Mann, der betteln geht, weil er nicht weiß, daß unter dem Fußboden seines Hauses ein Schatz verborgen liegt. Es bedarf der Aufklärung über ihr eigenes Wesen, damit sie das "Ziel" ihres Weges kennen und des Umganges mit weisen Menschen, die den Weg bereits gegangen sind, des sat sanga.

Das alltägliche Leben ist der Anfang, aber auch das Ende des Befreiungsweges der Tripura Rhasya.

Eine ganze Reihe von Weisen, die verschiedenste Wege der Selbstverwirklichung praktizieren, unter ihnen Gautama, kamen eines Tages zu Brahma, weil sie sich nicht über die Frage einigen konnten, welcher von ihnen den höchsten Rang einnimmt. Brahma wandte sich an Shiva, der an Vishnu, aber alle drei wußten keine Antwort. So versetzten sie sich in Meditation und befragten Tripura selbst.

Höchste Weisheit: den Alltag im Samadhi leben

"Weise, die ihre Einheit mit dem Selbst nur durch ständiges Bemühen aufrechterhalten können, nehmen den untersten Rang ein.

Andere befinden sich nur dann in der bewußten Einheit, wenn sie keine äußeren Tätigkeit ausüben.

Bei einigen ist das Einssein mit dem Selbst auch dann nicht beeinträchtigt, wenn sie ... z.B. ein großes Reich regieren. ... Ob sie arbeiten oder nicht, sie befinden sich im samadhi.

Zwischen diesen höchsten Weisen und mir gibt es keinen Unterschied. Sie sind mir völlig gleich."


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