Farbe und Farblosigkeit

SHIKI FU I KU - KU FU I SHIKI
SHIKI SOKU ZE KU - KU SOKU ZE SHIKI

Farbe ist nicht verschieden von Leere - Leere ist nicht verschieden von Farbe.
Farbe ist Leere - Leere ist Farbe

Hanya Shingyo

Im zentralen Sutra des Zen, dem Hannya Shin Gyô, dem Herz-Sutra, wird Shiki - Farbe - direkt mit Ku - Leere (sanskrit: sûnya) verbunden. Farbe ist ein Ausdruck des sûnyatâ, der Leerheit, wie sie der indische Denker Nâgârjuna um 200 n. Chr. in seinem Mûlamadhyamaka-Kârikâs, dem zentralen philosophischen Werk des Mahâyâna-Buddhismus, als Grunderfahrung und Voraussetzung für das Erreichen des Nirwana darstellt. Andererseits ist shiki, oder in der japanischen Lesung iro das, was sich in der einzelnen Erscheinung zeigt. Die Doppelung des Wortes iro wird zu iroiro, d.h. "Verschiedenes, Unterschiedliches". Unterschiedliche Farbe heißt: unterschiedliche Dinge. Iro, die Farbe, ist untrennbar verbunden mit der Vielheit und "Buntheit" der Dinge.
Damit ist klar, daß Farbe nicht einfach nur rot, gelb, grün oder schwarz ist.

Farbe im IROHA

Jedes japanische Kind lernt das IROHA, eine Art "Alphabet", nach dem die 50 Silben der Kana-Schriften geordnet sind. Iro ist die japanische Lesung des Schriftzeichens - Farbe, das in der sinojapanischen Lesung Shiki gesprochen wird.

Iroha aus dem Schreibheft von Tokugawa Ieyasu In der Heian - Zeit wurde von buddhistischen Mönchen zusätzlich zur chinesischen Schrift eine Silbenschrift entwickelt, die den gesamten Lautbestand der japanischen Sprache in Form von Silben wiedergeben sollte. Für jede Silbe wurde ein Kanji mit einem entsprechenden Lautwert so vereinfacht, daß sie leicht zu schreiben war. So konnte die gesamte japanische Sprache mit nur etwa 50 Schriftzeichen geschrieben werden. Diese Laute wurden später in der sogenannten 50 - Laute Tafel systematisiert, deren erste Reihe zunächst die Vokale A E I O U und die weiteren Reihen die Kombinationen dieser Vokale mit den Konsonanten bilden, z.B.: Ka Ke Ki Ko Ku usw. Die fünfzig Laute in der alten japanischen Sprache und in der heianzeitlichen Anordnung - nach der heute noch etwa die Sitze im Nô - Theater durchgezählt werden - lauteten:

Iroha: Alphabet

Das IROHA
IRO HA NI HO HETO
CHI RI NURU(W)O   
WA KA YO TA RE SO 
TU NE NA RA MU   
U (W)INO O KU YAMA
KE FU KO ETE  
A SA KI YU ME MI SI
(W)E HI MO SE SU   

 
Die zunächst nicht erkennbare Systematik der Anordnung besteht darin, daß:

In einer modernen Umschreibung (der Lautbestand der japanischen Sprache hat seit der Heianzeit einige Veränderungen erfahren und einige Laute sind weggefallen) lautet das IROHA:

iro.ha nioedo chirinuru.o
wa.ga yo tare zo tsune naran
ui.ga yo tare zo tsune naran
ui.no oku yama kyô koete
asaki yume miji ehi.mo sezu
 
Die Farben sind noch frisch, doch sind die Blätter, ach, schon abgefallen!
Wer denn in unserer Welt wird unvergänglich sein?
Die Berge fernab von den Wechselfällen (des Lebens) heute überschreitend,
Werde ich keinen seichten Traum mehr träumen, bin auch nicht berauscht.

Der erste Teil des Gedichtes gibt die Stimmung der Vergänglichkeit wieder, der zweite Teil spiegelt die Befreiung vom Leid der Vergänglichkeit. Die Grundstimmung im ersten Teil wird gekennzeichnet durch die Farbe (iro), der zweite Teil, der mit der Überschreitung der Berge beginnt, also die Richtung weg von den Niederungen des ständig wechselnden Alltages gibt, ist gekennzeichnet von der Abwesenheit des nichtigen Traumes - Yume.
Gibt man sich leidenschaftlich den Farben hin, gleicht das Leben einem Traum und es entsteht Wehmut über die Vergänglichkeit. Erst die Richtung überwärts, hin zu den Bergen, einer Welt ohne Farben, befreit von Traum und Rausch. Die Welt der Farblosigkeit ist frei von jeder Illusion und Anhaftung, sie ist kühl und nüchtern. Es ist die Welt nach der Befreiung, wie sie der Buddhismus anstrebt.

Der Garten am Heian-Schrein in Kyoto ist entsprechend dieses Konzepts der Befreiung wie das Iroha in seiner Struktur zweigeteilt. Zur Zeit der Kirschblüte wird man im ersten Teil des Gartens geradezu überwältigt von der Fülle der Kirschblüten. Wohl nirgendwo sonst auf der Welt findet man eine solche Vielfalt der unterschiedlichsten Zierkirschen. Bei jedem Windstoß wirbeln die Blütenblätter durch die Luft und man hat den Eindruck, sich durch einen Schneesturm aus fallenden Blütenblättern zu bewegen. An einer leichten Wegbiegung, die ein wenig aufwärts führt, wechselt plötzlich der Blick und man sieht nur noch die Farblosigkeit von Kiefern, immergrünen Pflanzen und alten, windzerzausten und abgestorbenen Bäumen. Diese Welt der Stille und Ruhe trifft unvermittelt und geradezu schockartig, so daß man wieder zurückstrebt zur Kirschblüte, die man aber nur sehen kann, wenn man wieder einige Schritte zurückgeht. So ist man hin und her gerissen zwischen zwei Welten, der Welt der Farbe und der Welt der Stille. Endlich aber empfindet man die Ruhe der Kiefern als Erlösung von der wirbelnden Schönheit der vergänglichen Kirschblüten.