Philosophie und Zen - oder: Was ist Zen?

Zenmeister Dōgen gilt als einer der größten Denker, die Japan hervorgebracht hat. Aber er war doch Zen-Meister! Ist der Zen nicht von Grund auf mißtrauisch gegenüber dem Wort und dem Philosophieren? Aber was ist Zen?

Im Teeweg gibt es das Wort:

cha zen ichi mi 茶禅一味
Tee und Zen - Ein Geschmack

Aber im modernen Japan hört man: Zen ist Zen, Tee ist Tee. Der Teeweg hat nichts mit Zen zu tun. Im Zen meditiert man, indem man still im Lotossitz verharrt und indem man sich mit einem Kōan befaßt. All das kommt im Teeweg nicht vor. Also ist der Teeweg kein Zen. Im japanischen Alltag hat diese Meinung sicher ihre Berechtigung. So wie der Teeweg in Japan praktiziert wird, hat er wirklich nichts mit Zen gemein.

Aber es gibt auch den Chiku-Zen bzw. den Sui - Zen. So bezeichnen die Komuso Mönchen ihr Spiel auf der Bambus (Chiku)-Flöte, wenn sie mit ihrem Atem blasen(sui) und die Töne hervorbringen. Ihre Übung ist nur das Spielen der Shakuhachi, nicht das Sitzen im Lotossitz.
Und nun gar Philosophie und Zen! Wenn es nicht ein großer Zen-Meister wie Dōgen gewesen wäre, der so wortgewaltig philosophiert hat, würde man das Ansinnen, Philosophie könne auch eine Art Zen sein empört zurückweisen. Aber Zen muss sich nicht in der Form der Sitzmeditation abspielen. Das ist Sa-Zen, Sitz - Zen und lediglich eine Form des Zen, freilich die Form, die in den meisten Zen-Klöstern geübt und praktiziert wird und die am auffälligsten ist. Für Dôgen - und nicht nur für ihn - ist auch die alltägliche Arbeit Zen. Diese Art des Zen vollzieht sich in den Zen-Klöstern als Arbeit in der Küche oder im Garten. Das samu, die alltägliche Arbeit ist eine andere Form des Zen.

Rolf Elberfeld, der Mitherausgeber und Übersetzer von Teilen des Shōbōgebzō schreibt:

Zen scheint gerade in Europa dafür zu stehen, alle intellektuellen Gedankenspiele aufzugeben und die sprachliche Dimension radikal abzuschneiden. Die ist bei Dōgen explizit nicht der Fall, da er vielmehr umgekehrt den sprachlichen Ausdruck bis zur äußersten Grenze nutzt, um das Sichrealisieren von Wirklichkeit auch in der Sprache zu üben. ... Die Texte sind somit selber Formen, wie das Erwachen im buddhistischen Sinne geübt werden kann. Es handelt sich um Übungen des Erwachens. Das Philosophieren Dōgens; ist nichts anderes als eine Form des Zen. Allerdings ist das Philosophieren kein Selbstzweck, sowenig wie das Spielen auf der Shakuhachi oder das Üben des Teeweges Selbstzweck sind.

Das Wort Zen leitet sich vom indischen Sanskrit Wort dhyāna - Konzentration, Meditation, Versenkung ab. Im Yogasutra des Patanjali gehört dhyāna zu den inneren drei Blütenblättern der achtblättrigen Blüte des Yoga. Die äußeren fünf Blätter sind: Sind diese fünf Blütenblätter verwirklicht, so folgen als Krönung des Yoga die drei inneren Blätter: . āsanam, die Körperhaltung muss dabei nicht aus den klassischen Stellungen des Yoga bestehen. Auf der Sitz beim Sa-Zen ist āsanam. Für Dōgen ist auch die Verrichtung alltäglicher Arbeit, sofern sie in Konzentration erfolgt, eine Art des āsanam.
Wenn man nach diesem System denkt, so ist etwa die Praxis des Teeweges weitestgehend auf die ersten Stufen, die innere und die äußere Disziplin beschränkt. Wenn man Glück hat, findet man einen Lehrer, der die Wichtigkeit der Körperhaltung und der Atmung vermitteln kann, was aber in der heutigen Praxis kaum noch der Fall ist. Alle anderen Punkte werden kaum oder überhaupt nicht berücksichtigt.

Und wo steht in diesem System die abendländische Philosophie? Innere und äußere Disziplin? Körperhaltung? Atmung? Wozu braucht man solche Dinge zum Philosophieren? Für Dōgen gehören Disziplin, Körperhaltung und Atmung völlig selbstverständlich zum Übungsweg des Zen. Sind die fünf äußeren Blütenblätter gegeben, so handelt es sich bei Konzentration und meditativer Haltung nach dem Yogasutra um dhyāna, chinesisch Cha'an, japanisch Zen.

Aber denken und philosophieren vollzieht sich doch lediglich im Medium der Sprache? Ja und nein. Es kommt darauf an, was man unter Sprache versteht. Für Aristoteles war Sprache der Ausdruck der Seele. Aber bevor die "Seele" - was auch immer das sein mag, etwas ausdrücken kann, muss sie zuvor einen Eindruck empfangen haben. Dieser Eindruck wurd durch die Dinge verursacht. Dann würde der Ausdruck der Seele in der Sprache den Dingen außen entsprechen.
Platon geht in seinem Dialog Kratylos der Frage nach, wie denn die Dinge und die Namen, die sie benennen zusammenhängen.

Hermogenes: Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie Einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche.

Damit erhebt sich die Frage, was für Dōgen überhaupt Sprache bedeutet, denn das Philosophieren vollzieht sich in der Sprache. Sprache ist für Dōgen kein Mittel der Kommunikation, sowenig wie für die Komuso - Mönche das Erzeugen von Tönen auf der Shakuhachi Musik ist. Dōgen steht in seinem Denken noch sehr nahe an den indischen Wurzeln. In seiner Jugend hatte er den esoterischen Buddhismus der Tendai kennengelernt, ihm waren sicherlich auch die Ideen eines Kukai, des Gründers des Shingon nicht unbekannt. Shingon - das wahre Wort - ist die Übersetzung des indischen Wortes Mantra. Für Dōgen ist die Sprache und das Wort selbst ein Mittel, um zum Erwachen zu gelangen. Im Kapitel Sansui gyō des Shōbōgenzo schreibt er:

Die Reden, die zu tun haben mit Nachdenken seien nicht die Zen-Reden der buddhistischen Patriarchen (so meinen heute viele Zen - Buddhisten in China). Die Reden der buddhistischen Patriarchen seien unverständliche Reden.

Daher hätten das Schlagszepter von Ōbaku und das Donnern von Linji (jap. Rinzai) nichts zu tun mit Verstehen oder Nachdenken. Dies sei das große Erwachen (大悟 - Dai Satori), das vor aller Zeit war. Es handele sich dabei um ein Mittel der alten Meister, mit einem Satz das Verhaftetsein an Worte abzuschneiden, und genau dies sei nicht verstehbar.

Diejenigen, die diese Auffassung vertreten, sind noch nicht dem richtigen Meister begegnet und haben kein Auge für das inständige Lernen.
Sie wissen nicht, dass das Nachdenken Sprache ist und dass die Sprache das Nachdenken befreit!

Dōgen stellt sich gegen die auch heute im Westen weit verbreitete Auffassung, der Zen sei mit dem Nachdenken nicht zu erfassen und irrational. Als Beispiel gelten die Methoden Linji's (Rinzai), der nur mit lauten Schreien seine Schüler wach gerüttelt hat. Aber man muss bedenken, dass er überwiegend Söhne von einfachen Bauern unterwiesen hatte, die weder lesen noch schreiben konnten. Für Dōgen ist gerade auch die Sprache und das Nachdenken ein wichtiges Medium, das Erwachen zu realisieren. Aber dazu muss er die Sprache so gestalten und formen, dass sie geeignet ist, im sprachlichen Nachdenken das Erwachen zu realisieren.

Freilich muss man sich davor hüten, einfach Dinge und Sätze nachzuplappern. Vielfach werden einfach nur die alten Sätze und Koan nachgeredet und man erspart sich das Nachdenken, indem man den Zen schlichtweg für irrational erklärt und versichert, er sei nur "aus dem Bauch heraus" zu realisieren. In einem Seminar über Rilkes "Duineser Elegien" hat einmal ein Teilnehmer verwundert erklärt, er dachte, er sei hier in einem buddhistisch eingeweihten Kreis. Aber Rilkes Denken war ihm so fremd, dass er begann, nachzudenken. Nach ein paar Tagen bemerkte er, dass er jetzt anfing zu verstehen, was er in der sprachlichen "Rutschbahn" - wie er sagte - der üblichen buddhistischen Erklärungen einfach nur nachgeredet hatte. Sprache kann zum Erwachen führen, sie kann aber auch, wenn sie nur nachgeplappert wird, ein Hindernis sein. Dōgens Sprache hat den Vorzug, dass sie so schwierig ist, dass man zum Nachdenken gezwungen wird, man kann Dōgen nicht einfach nachplappern. Aber Dōgen versucht mit Worten das Wesentliche zu sagen. So wird Denken und seine Philosophie zu einem Weg des Erwachens. Damit ist Dōgen nicht nur einer der größten Zen-Meister Japans, sondern auch einer der größten Denker dieses Landes, vielleicht der Größte überhaupt. Aber seine Philosophie weist weit über Japan hinaus, er zählt sicherlich zu den noch weitgehend unentdeckten philosophischen Denkern der Welt.


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