Dao De Jing Nr 5

Die Leere

虚而不屈 - xū ér bù qū - Leer aber unerschöpflich

Der Raum zwischen Himmel und Erde gleicht Trommeln und Flöten. Kyo: Leerheit Aber er ist LEER - 虚 xū (japan.: Kyo). Die Leere, die hier gemeint ist, unterscheidet sich von anderen Bezeichnungen und Vorstellungen der Leere. Das Schriftzeichen zeigt im oberen Teil einen Tiger , darunter ist das Bild von Hügeln. Diese Leere hat die Kraft des Tigers, der über die Hügel der Steppe zieht, jeden Augenblick bereit zum Sprung.
Der weiße Tiger wird später im Daoismus das Symbol der Yin - Energie, die in der linken Niere sitzt. Der grüne feurige Yang-Drache in der rechten Niere und der wässrige weiße Yin-Tiger in der linken Niere blasen ihre Energien in einen Tiegel, der am Ende der Wirbelsäule sitzt, dort wo die Zinnoberfelder (der Dantien) sind. Mit richtiger Atemtechnik, bei der vor allem das Ausatmen eine Rolle spielt, wird die Lebensenergie in den Zinnoberfeldern angefacht. Nach dem Ausatmen bewahrt man in der Zen-Meditation eine Zeit lang die Leere im Dantien, die sich mit ungeheurer Lebensenergie füllt.
Beim Spiel der Shakuhachi, der Zen-Bambusflöte, die als Zen-Übung von China nach Japan kam, bildet sich der kraftvolle Ton nur im langsamen, gleichmäßigen Ausamtmen. Der Unterbauch muss völlig entleert werden und sich die Kraft sammeln. Dann wird ganz kurz eingeatmet und wieder strömt ganz langsam die Atmung in die Hohlräume der Flöte un den Ton zu bilden.

Das Zeichen kann die Bedeutung von leer, hohl, eitel, nichtig, unnütz, falsch, unecht, unwahr, unwirklich, Schein, nominell, vorurteilslos, unbefangen, gelassen haben. Die 'Dicke Leere' 太虚 bezeichnet den leeren Himmel.

Aber der Himmel hat eine eigene Leere. Er ist ku oder sora, der (leere) Himmel. Von dieser Leere des Himmels spricht das Hannyashin Gyo, das Herzsutra. Dort heißt es, dass die Erscheinungen (Farben) die Leere (ku) sind und die Leere die Erscheinungen. Wir könnte sagen, diese Leere hat eine Farbe, die Farbe des leeren Himmels, nämlich Blau. Zenmeister Dôgen sagt, dass wir im Zazen, der Meditation im Sitzen diese Leere um uns herum erfahren. Im indischen Denken ist diese Leere akasha, der leere Raum.
KU
leerer Himmel
Leere
MU
NICHTS
Leere
KYO
LEERE
Eine dritte Leere bezeichnet das Wort MU - Nicht, Nichts. Das Gegenstück zu MU ist YU - Sein oder haben. Von diesem Gegensatzpaar ist im Dao De Jing Nr 1 die Rede. Die Leere ist Ursprung von Himmel und Erde, das Sein Mutter der 10 000 Dinge. Das Schriftzeichen MU zeit den Raum zwischen Himmel und Erde. Die 10 000 Dinge im Zwischenraum sind durchgestrichen: der leere Raum.

Die Leere ist eine Leere des Menschen. Im Buddhismus bezeichnet es das Frei-sein von Wünschen und Begehrlichkeiten. Es ist der Mensch, der sich leer macht.
Diese drei unterschiedlichen Arten der Leere spiegeln die drei Ebenen Himmel - Erde - Mensch wieder, aber letzlich sind sie in ihrem Wesen doch wieder eins: Leer!

Das Schriftzeichen zusammen mit dem Radikal für Öffnung, Mund bezeichnet im Japanischen die Lüge, die Falschheit. Lügen sind nach dieser Auffassung "leere Worte" ohne Bedeutung. Aber ursprünglich bedeutetd das Zeichen im Chinesischen xu - langsam ausatmen.

Der Meister Buntgescheckt sitzt an seinen niedrigen Tisch gelehnt, der wohl eher eine Armstütze ist, schaut auf zum Himmel und atmet langsam aus (仰天而噓). Dieses langsame Ausatmen ist ein Loslassen und Leer-werden von eigenen Wünschen und Leidenschaften. Meister Buntgescheckt ist danach ein Anderer als zuvor und: er hört die Flöten des Himmels. Dieses Leer-Werden ist die Voraussetzung dafür, dass die Töne des Himmels in dieser Leere klingen können. Sind die Höhlungen und Öffnungen angefüllt, so klingen sie nicht.

Der Große Klumpen ... stößt einen Lebensatem aus, den man Wind nennt. Solange er nicht bläst, geschieht nichts. Hebt er jedoch zu blasen an, dann beginnen Myriaden Löcher zu heulen. Hast du nie sein Seufzen gehört?
Die Spalten und Klüfte der aufsteilenden Berge, die Löcher und Hohlräume der riesigen Bäume von hundert Spannen Umfang: Sie sind wie Nasenlöcher, wie Münder, wie Ohren, wie Sockel, wie Becher, wie Mörser, wie die Kuhlen, in denen sich Pfützen und Teiche bilden.
Der Wind bläst über sie hinweg und macht das Geräusch von sprudelndem Wasser, von sirrenden Pfeilen, schreiend, keuchend, rufend, weinend, lachend, grollend. Die erste Böe singt Ayii, der folgende Windstoß singt Wouuu. Eine leichte Brise ruft eine kleine Antwort hervor, ein heftiger Sturm läßt einen mächtigen Chor erschallen. Verebbt das Stürmen, so sind alle Höhlungen still. Hast du nicht die Blätter gesehen, wie sie in tönendem Nachhall erzittern?

Der Mensch hört die Töne des Himmels nur, wenn er still UND leer wird, leer von eigenen Wünschen und Begierden, Ängsten und Hoffnungen. In dieser Leere kann dann das Lied des Himmels singen. Der Mensch hört die Töne des Himmels, die aber nirgendwo anders klingen, als in ihm. Er ge-hört dem Himmel. Aus diesem Ge-Hören kann er SAGEN, sagen im wesentlichen Sinne. Seine Worte sind nicht anderes, als die Wiedergaber dessen, was in ihm klingt. So verbindet er Himmel - Ernde - Menschen.

Das Bild des Blasebalges, das meistens bei der Übersetzung des Daodejing 5 bemüht wird, um den Raum zwischen Himmel und Erde zu beschreiben führt in die Irre. Am eindringlichsten hat wohl Backofen 1949 den Text nachgedichtet. Er selbst war ja auch kein Sinologe, aber er wollte "den ehrlich um religiöse Wahrhaftigkeit ringenden Menschen der Gegenwart eine sprachlich flüssigere und inhaltlich leichter verständliche Form des Tao-Te-King" geben.

Wie des Schmiedes Blasebalg,
in sich leer, doch höchste Glut
und edelstes Schaffen ermöglicht,
wenn er im Innern bewegt wird,
so wirkt aus dem Nichts schöpferisch das All;

Wir sehen hier einen fleißigen deutschen Hephaistos im Schweiße seines Angesichts am Blasebalg stehen und im heftigen Feuer das Eisen schmieden.

Exkurs: Hölderlin
Hölderlin dichtet im Archipelagos das rastlos umtriebige und unselige Schaffen und Werken der Menschen:

Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnet, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höret Jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar. wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Ans eigene Treiben geschmiedet sind sie allein: nur ihr Treiben zählt als das Alleinige. Sie kennen nichts anderes als das umtriebige der tosenden Werkstatt. Aber so an das eigene Treiben geschmiedet - gekettet, sind sie: Allein! Das Einzige, was Lösung bringen würde, ist das Lauschen auf den Gesang des Archipelagos, dem Meer der Griechen. Die Götter sind entflohen und die Menschen gedenken nicht mehr des Griechenmeeres, aber der Archipelagos singt, wie immer mit der Stimmer der Natur. Mit einem Anruf aus der Not des Menschen, den Irrsal und Wirrsal umtreibt, endet der Gesang Hölderlins:

Töne mir in die Seele noch oft, dass über den Wassern
Furchlos rege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischen Glücke sich üb, und die Göttersprachen, das Wechseln
und Werden versteh, und wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Haupt erschüttert,
Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.

Auch hier ist der Geist "furchtlos rege". Aber er ist nicht ans eigene Treiben gekettet. Wie ein Schmimmer, der um die abgründige Tiefe weiß regt sich der Geist im vollen Glück des Schwimmers. Aber wenn die "reißende Zeit" das Haupt zu sehr erschüttert, dann soll der Archipalagos nicht mehr mit dem Lied der Wogen erfreuen, das eine Antwort auf das Wehen des Windes und das Wirken des Himmels ist: Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.

WU WEI. Reden und Ge-Rede
Der Blasebalg, der das Bild des unermüdlich sich abmühenden Schmiedes hervorruft ist vermutlich nicht im Daodejing gemeint. Es geht nicht um ein unermüdliches Schaffen und Wirken. Es geht um das Los-Lassen XU und Nicht-Tun WU WEI, damit die Töne des Himmels in der so entstandenen Leere von selbst so JIRAN klingen können. Im Getöse des Blasebalges und des Schmiedehammers ist gerade das Tönen der Himmelsmusik nicht zu vernehmen und sei das Werk, das es zu vollbringen gilt auch noch so edel. Entweder hat der Blasebalg einen eigenen Willen oder es ist da ein Wille, der ihn bewegt. Aber der Raum zwischen Himmel und Erde ist eigentlich kein vorfindliches Ding. Im chinesischen Text kommt denn auch kein Personalpronom vor, ganz einfach auch deshalb, weil die chinesische Sprache keine Personalpronomina kennt. Es ist nicht ER, der Blasebalg, der SICH bewegt. Es ist vielmehr ein Bewegen, von keiner bestimmten Gestalt erzeugt oder erlitten. Möller übersetzt sehr schön: "je stärker bewegt, desto mehr kommt hervor". Auch der Schwimmer Hölderlins ist nicht bewegungslos. Aber er läßt sich tragen vom Element des Meeres und er genießt das Getragen-Sein über der Tiefe. Er hört die Stime der Tiefe - die Stille.

Die folgenden zwei Verse bieten einige Probleme.
多言數窮
不如守中
duō yán shù qióng
bù rú shǒu zhōng
Viel Reden erschöpft sich
Besser: die Mitte wahren.
Im Mawangdui-Text ist statt 'Worte' oder 'reden' 'Hören' zu lesen. Demzufolge übersetzt Möller, der die Mawangdui Texte als Grundlage benutzt:
Vieles hören, einiges ergründen -
Die Worte oder das Reden Luft, die geformt aus dem Mund strömt. Das Schriftzeichen zeigt deutlich die Schallwellen, die dem Mund entströmen: Das passt durchaus zu dem Bild vom Blasebalg. Je stärker dieser bewegt wird, desto mehr bringt er hervor. Wieso soll es dann falsch sein, viel geformte Luft aus dem Mund auszustoßen? Der fünften Abschnitt des zweiten Buches des Zhuangzi handelt vom Reden:

Reden ist nicht nur das Ausstoßen von Luft. Rede beabsichtigt, etwas zu sagen. Doch was ausgesprochen wird, muss nicht unbedingt gültig sein. Oder sagt Reden überhaupt nichts? Man glaubt, Reden sei verschieden vom Tschilpen junger Vögel - doch gibt es wirklich einen Unterschied?

Zhuangzi misstraut der Rede und dem Wort ebenso wie Laotsi im Daodejing. Aber Zhuangzi unterscheidet zwischen Rede und Rede.

Großes Wissen ist weit und geräumig,
kleines Wissen eng und verkrampft.

Große Rede ist von leuchtendem Glanz,
kleine Rede ist Geschwätz.
大知閑閑
小知間間

大言炎炎
小言詹詹

Zhuangzi unterscheidet zwischen dem alltäglichen Gerede und der Rede des Weisen, des "heiligen Menschen", der nur redet, nachdem er zuvor gehört hat. Diese Rede sagt, weil sie zuvor auf die Töne des Himmels gehört hat und ihnen ge-hört, das 'große Wissen', das 'weit und geräumig' ist, sie ist von "leuchtendem Glanz". Die große Rede entspricht dem großen Wissen, das weit und geräumig ist. Weit und geräumig ist zweimal mit dem Schriftzeichen Kan - Muße, schöpferische Ruhe - geschrieben. Großes Wissen und große Rede sind weit und offen wie der Himmel, die der Weise zuvor in der schöpferischen Muße gehört hat, nachdem er seine Wünsche und Leidenschaften hat still werden lassen, indem er ausatmet und losläßt.

So leer geworden und nicht mehr das eigene Gerede redend tönt er den Klang des Himmels und bewahrt unerschöplich die Mitte.


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